Zu mir oder zu dir? Wer entscheidet über die Beziehungen zwischen Schweiz und EU

Diplomatie & internationale Akteure

Tobias NaefDie Neugestaltung des bilateralen Wegs und die damit verbundenen institutionellen Fragen sind das heisseste Dossier in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Die neuen Vorschläge der beiden Chefunterhändler zeigen in Richtung Fremde Richter. Inwiefern tangiert dies unsere Souveränität?

Die Chefunterhändler der Schweiz (Yves Rossier) und der EU (David O’Sullivan) haben gemeinsam drei Vorschläge skizziert, wie die institutionellen Fragen beantwortet werden könnten. Der aussichtsreichste Vorschlag oszilliert zwischen den Forderungen der beiden Parteien. Der in der Schweiz medial und politisch meistbeachtete Aspekt dieses Vorschlags ist die Installation des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als oberstes Gericht über alle bilateralen Verträge.

Dazu führte Yves Rossier in einem Interview mit der NZZ am Sonntag aus: „Das ist im Prinzip logisch, denn es geht um EU-Recht, das die Schweiz freiwillig bei sich anwenden will, um so Zugang zum europäischen Markt zu erhalten.“ Natürlich gibt es in der Schweiz Stimmen, welche dies weit weniger logisch finden. Nicht nur SP-Parteipräsident Christian Levrat und Bundesrätin Doris Leuthard (CVP) üben Kritik, auch das altbekannte Argument der unerwünschten Fremden Richter, welche (in den weit entfernten luxemburgischen Elfenbeintürmen) die Schweizer Souveränität erodieren würden, taucht prominent vom Präsidenten der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates Andreas Aebi (SVP) und vom Chefredaktor der Basler Zeitung Markus Somm auf.

Was soll die Aufregung?

Die sektorielle Unterstellung unter ein internationales Regelwerk und Gerichtssystem betrifft nicht nur Kleinstaaten wie die Schweiz, sondern auch Grossmächte wie China. Es lohnt sich hier ein Blick in das Rechtssystem der Welthandelsorganisation (WTO), das wie die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU wirtschaftlich geprägt ist und vor allem Regeln zur Handelsliberalisierung umfasst. Ein Fall, der 2012 von einem Panel im Streitschlichtungssystem der WTO entschieden wurde, enthält eine besondere Lehre für die Schweiz: In China – Raw Materials ging es darum, dass China Exportzölle auf bestimmte Rohstoffe eingeführt hat, obwohl es sich in seinem WTO-Beitrittsprotokoll von 2001 dazu verpflichtete, dies nicht zu tun. China berief sich auf die permanente Souveränität über die eigenen Rohstoffe – ein Prinzip des Völkergewohnheitsrecht (UNO-Resolution 1803). Das Panel entschied gegen China, indem es Chinas Ausübung von Souveränität beim Beitritt zur WTO und damit den impliziten Willen sich den WTO-Regeln zu unterwerfen hervorhob.

Mit dieser Begründung lässt sich dem Argument begegnen, dass Fremde Richter die Souveränität der Schweiz zerbröseln. Mit den bilateralen Verträgen hat die Schweiz souverän zur sektoriellen Teilnahme an einem notabene fremden Binnenmarkt entschieden. Vor dem Abschluss von neuen Verträgen werden das Parlament – sehr wahrscheinlich auch das Volk – souverän über die Installation von institutionellen Fragen entscheiden können. Souveränität bedeutet dabei nicht die Abwehr von allem Fremden, sondern die freie Entscheidung sich gewissen Regeln zu unterwerfen. Dabei soll die wirtschaftliche Abwägung zwischen einer weiteren Integration und den Konsequenzen der Ablehnung im Mittelpunkt stehen – wie dies China 2001 und die Schweiz 1995 mit dem Beitritt zur WTO getan haben.

Alles halb so schlimm?

Zwei Punkte gilt es noch anzufügen: Erstens soll die Schweiz als Drittland gemäss dem Vorschlag bei einer Verurteilung durch den EuGH die Möglichkeit haben, souverän zu entscheiden das Urteil nicht umzusetzen. Ein negativer Entscheid wird natürlich zu einer Reaktion der EU führen. Das kann beispielsweise die Kündigung eines Abkommens sein, aber auch weniger weit greifende Massnahmen sind möglich. Zweitens differenziert der EuGH, wenn er sich nicht mit Mitglieds- sondern Drittstaaten befasst. Im Urteil Polydor von 1982 hatte der EuGH ein bilaterales Handelsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Portugal (damals noch nicht Mitglied der EG) auszulegen. Der EuGH hielt fest, dass das bilaterale Abkommen nicht die gleiche Zielsetzung hat wie der EWG-Vertrag, „da dieser, wie oben bemerkt, auf die Schaffung eines einheitlichen Marktes abzielt, dessen Bedingungen denjenigen eines Binnenmarktes möglichst nahekommen.“ Der EuGH muss auch bei Entscheiden über die bilateralen Verträge mit der Schweiz dem Grad und der Natur der Integration der Schweiz in den Binnenmarkt Rechnung tragen und kann seine Praxis zu den Mitgliedstaaten nicht eins-zu-eins auf die Schweiz übertragen.

Die Erkenntnis von Yves Rossier, „Ja, es sind fremde Richter, es geht auch um fremdes Recht“, ist durch den Spielraum der Schweiz bei der Implementierung der EuGH-Urteile und den Spielraum des EuGH bei bilateralen Verträgen zu ergänzen. Der Weg in die politische Arena ist für das Dossier der institutionellen Fragen nun geöffnet. Es bleibt zu hoffen, dass sich der politische Diskurs auf die wirtschaftliche Abwägung und nicht auf Fremde Richter konzentriert. Denn die Souveränität der Schweiz bleibt gewahrt, wie auch immer wir uns entscheiden.

Tobias Naef, BA, studiert Jura (MLaw) an der Universität Bern und arbeitet dort am Institut für Europa und Wirtschaftsvölkerrecht. Er ist Vorstandsmitglied von foraus und Co-Autor des foraus-Diskussionspapiers Nr. 11 zu den institutionellen Fragen.

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