“Wir sind nicht als Fremde geboren, wir werden zu Fremden gemacht"

Migration

Kijan Espahangizi sprach am ersten MigrantInnen-Kongress der Schweiz Klartext – über das Gefühl, zu einem Fremden gemacht zu werden, über Rassismus, über Menschen zweiter Klasse, über Ausgrenzung, über die “Unsichtbaren” und darüber, was die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative für ihn bedeutet: “Wer behauptet, dass Migration ein Problem ist, sagt, dass mein ganzes Leben ein Problem ist.” Hier veröffentlichen wir seine Rede.

 

Folgende Rede wurde am 1. Kongress der MigrantInnen und Menschen mit Migrationshintergrund gehalten. Die Rede kann auch nachgeört werden unter: http://bit.ly/1zGGHhS

Nun ist es ein Jahr her, dass die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wurde. Für viele von uns, auch für mich, war der 9. Februar 2014 ein Wendepunkt. Ich wohne nun seit 8,5 Jahren in der Schweiz. Und seitdem erlebe ich eine politische Kampagne nach der anderen, die unsere Würde und unsere Rechte mit Füssen tritt. In der ganzen Zeit habe ich mir, wie wahrscheinlich viele von uns, eine starke vereinte Stimme der Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund gewünscht. Auch nach dem 9. Februar.

Denn es ging bei der Masseneinwanderungsinitiative nicht nur um die „Sachfrage“, ob die Personenfreizügigkeit mit der EU fortgeführt werden sollten, oder nicht. Auch wenn das in den meisten Medien und von den Politikern verharmlost wurde: Die Abstimmung am 9. Februar war auch ein klares Zeichen an alle Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund, die wir längst in der Schweiz leben. Es war ein deutliches Zeichen an alle von uns – von der eingebürgerten Seconda bis hin zum Sans-Papiers – wem die Schweiz gehört, wer hier etwas zu sagen hat und wer nicht. Man hat uns gezeigt, dass wir nur erwünscht sind, wenn wir nützlich sind für den Schweizer Wohlstand. Man hat uns gezeigt, dass Einwanderung ein Problem ist, dass wir ein Problem sind.

Wer spricht über unsere Ängste?

Es wird in den Medien und in der Politik viel über die Ängste der Schweizerinnen und Schweizer gesprochen, der Ängste vor Einwanderung. Doch wo sind unsere Ängste geblieben? Unsere Ängste vor unsicherem Aufenthaltsstatus und Ausgrenzung, unsere Ängste vor lautstarker Fremdenfeindlichkeit und stillschweigender rassistischer Diskriminierung, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Schul- und Bildungssystem, im Bereich Gesundheit, vor Gericht, in der Politik und in der Kultur. Wo bleiben unsere Ängste davor, dass noch unsere Kinder und unsere Kindeskinder wegen ihres Ausweises, ihres Namens, ihres Aussehens, ihrer Kultur, ihrer Religion zu Fremden im eigenen Land gemacht werden. Was ist mit unseren Ängsten davor, dass unsere Brüder und Schwestern, unsere Verwandten und Freunde es in Zukunft noch schwerer haben, werden in die Schweiz kommen zu können.

“Das grosse M über allen Plätzen in der Stadt: M wie Migros aber auch M wie Migration.” (Foto: Ursula Häne, WOZ, die Wochenzeitung)

Es wird viel von Fremdenfeindlichkeit geredet in der Schweiz, als sei das etwas Normales, Verständliches, ja etwas Menschliches. Man sagt, es gibt Fremde und vor Fremden hat man eben Angst. Wir haben das so häufig gehört, dass wir selbst angefangen haben, das zu glauben. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Wir sind nicht als Fremde geboren, wir werden zu Fremden gemacht, zu Ausländern und Südländern, zu Tschinggen und Yugos, zu Negern und Kanaken, zu Shipis und Zigeunern, zu Muslimen und Orientalen, zu Integrationsverweigerern, Asylbetrügern und Wirtschaftsflüchtlingen, zu Migrantinnen und Migranten. Aber eben auch zu Second@s oder neuerdings zu Menschen mit Migrationshintergrund. Das nennt man Rassismus und nicht anderes. Täuschen wir uns nicht, der heutige neue Rassismus in der Schweiz und Europa spricht nicht mehr von Rassen, sondern von anderen Kulturen, von Fremden, von Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig ist Rassismus ein Tabuwort in der Öffentlichkeit. Warum wohl? Die Bezeichnungen ändern sich, die Ausgrenzung und Diskriminierung bleibt. Aber auch wir wehren uns mit den neuen Namen, unter denen wir ausgegrenzt werden.

Dieses Land ist auch unser Land

In Wirklichkeit sind wir aber vor allem eines: Menschen. Mitmenschen in diesem Land. Es ist daher Zeit, der Schweizer Dominanzgesellschaft solidarisch und selbstbewusst entgegenzutreten und zu sagen: Dieses Land ist auch unser Land! Es ist das Land, in dem wir leben und arbeiten, das Land in dem wir lieben und träumen, in dem wir feiern und trauern, in dem wir uns engagieren und uns einbringen, das Land in dem wir Steuern zahlen und investieren, es ist das Land, in das unsere Eltern kamen und in dem unsere Kinder aufwachsen werden. Wir sollten dem selbsternannten Schweizer Volk zurufen: Schaut euch um in eurem Alltag, auf den Strassen, wir sind keine unsichtbaren Gespenster, wir sind längst da, wir sind längst eure Mitbürgerinnen und Mitbürger. Mehr noch: Wir sind die Zukunft dieses Landes! Denn schon bald hat die Hälfte der Schweizer Bevölkerung nicht nur in den Städten Migrationshintergrund. Ich selbst wohne in Zürich-Altstetten. Jedesmal wenn ich auf dem Platz vor dem Bahnhof in Altstetten stehe und mich umgucke, sehe ich diese neue Schweiz schon heute. Wenn die Menschen aus den Bussen am Bahnhof Altstetten steigen, dann sehe ich Geschichten und Namen aus aller Welt. An dem Platz gibt es ein China Restaurant, ein italienisches Café, einen Taxistand mit Fahrern aus aller Welt, einen Dönerladen, Tische mit Tee und Shisha, kurdische und albanische Coiffeure.

Wenn ich den Jugendlichen zuhöre, die zur S-Bahn laufen, höre ich unterschiedliche Sprachen aus aller Welt. Ich sehe aber auch eine Jugend, die im eigenen Land ihre Herkunft erklären muss, die ihre Namen buchstabieren muss, die sich immer und immer wieder rechtfertigen muss, 1000 Mal pro Jahr, wo kommst du her, was machst du hier, was willst du hier? Das prägt diese jungen Menschen, so wie es mich geprägt hat. Ich schaue mich weiter um auf dem Bahnhofsplatz und sehe Menschen, die im Asylbeweberheim hinter dem Bahnhof leben müssen und warten und warten und warten. Sie sitzen auf den Bänken und schauen mit tiefen Augen, die viele Dinge gesehen und erlebt haben. Ich sehe da auch alte Menschen, mit Herzen, die mehr als eine Herkunft kennen und Erinnerungen aus aller Welt. Ich sehe Hände und Köpfe, die das Land gestern verändert haben, heute verändern, auch morgen verändern werden. Ich sehe Hoffnung auf eine andere Schweiz. Über dem Platz hängt ein oranges M – M wie Migros aber auch M wie Migration. Das grosse M über allen Plätzen in der Stadt sollte uns jeden Tag daran erinnern, dass wir längst da sind und dass die Migration die Schweiz längst komplett verändert hat. Doch das ist nur eine Seite der Geschichte. Wir wissen, dass die Frauen in diesem Land, lange nicht gleichberechtigt waren, obwohl sie die Hälfte der Bevölkerung sind. Wie kann das sein, gestern bei den Frauen, heute bei den Migrantinnen und Migranten und Second@s? Warum wirkt es so normal, dass wir nur Menschen zweiter Klasse sind in diesem Land? Das möchte ich gerne wissen.

Wenn die Problem im Land auf “-vic” enden

Wenn ich mir auf meinem Bahnhofsplatz in Altstetten die Plakate an den Wänden angucke, fange ich an zu verstehen. Dann finde ich all diese Menschen auf dem Bahnhofsplatz und ihre Geschichten, dann finde ich uns nicht mehr wieder. Da hängt Käsewerbung mit Schweizer Bauern in Trachten, da hängt Werbung für Urlaub im Heidiland, Plakate mit den Gesichtern von bleichen Politikern. Aber wo sind wir? Wo sind unsere Brüder und Schwestern, wo sind die -vics, -oglus, die Morenos, Mbeles und Azadis? Unsichtbar werden wir gemacht, wie Gespenster. Anwesend und abwesend zugleich. An derselben Wand sehe ich seit Jahren auch diese respektlosen rassistischen Plakate, die mir jedes mal wieder ein Stich ins Herz versetzen, die ich am liebsten runterreissen und verbrennen möchte. Und auf dem Boden liegt eine Gratiszeitung, in der alle Probleme in dem Land schwarze Haare haben und unaussprechliche Namen, sie haben einen falschen Pass und falschen Glauben, sie haben zu viele Kindern und zu wenig Kultur, zu viel IV und zu wenig Integration. Ich schaue mich erstaunt um, von welcher Integration reden die, olum? Integration worein, hermana? Anpassung woran, miku im? Wir leben hier, wie alle anderen auch. Wo ist das Problem? Wir brauchen keine Integrationsmassnahmen, die Schweiz braucht Entwicklungshilfe in Demokratie.

All diese Respektlosigkeiten gegen Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren, all die hässlichen Hetzkampagnen gegen Einwanderung treffen mich und viele andere mitten ins Herz. Migration hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Unsere Lebens- und Familiengeschichten sind Geschichten der Migration: Zum Beispiel als mein Vater vor über vierzig Jahren aus dem Iran nach Deutschland kam, als er in den deutschen Fabriken für den deutschen Wohlstand gearbeitet hat. Als er meine Mutter kennenlernte und sich beide entschieden trotz aller Widerstände gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Als beide alles dafür taten, dass ihre Kinder in ihrem eigenen Land nicht als fremd gelten, dass sie eine gute Ausbildung und glückliche Zukunft haben können. Als meine Onkel und Tanten, meine Vettern und Cousinen vor dem Iran-Irak-Krieg flohen, der mit europäischen Waffen geführt wurde, und vor der Diktatur, mit der alle europäischen Länder bis heute Geschäfte machen.

Wer behauptet, dass Migration ein Problem ist, sagt, dass mein ganzes Leben ein Problem ist

Migration hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich bin als Secondo, als Mischling mit Migrationshintergrund in Deutschland aufgewachsen. Und als ich dank der europäischen Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommen konnte, wurde ich wie mein Vater vor vierzig Jahren selbst zum Migrant. Wegen der Arbeit bin ich gekommen, wegen der Liebe bin ich geblieben. Meine Familie ist über die ganze Welt verstreut. Wir haben deswegen viele Heimaten, mehrere Zugehörigkeiten und Sprachen, nicht nur eine. Schon in der Schule wird uns häufig gesagt: ihr Secondos sitzt zwischen den Kulturen wie zwischen zwei Stühlen und das ist ein Problem. Aber wer sagt eigentlich, es gibt nur zwei Stühle und nicht mehr? Und überhaupt, bei uns zuhause sitzen wir am liebsten auf dem Boden, ganz ohne Stühle. Aber auch wenn ich nie ein „richtiger“ Schweizer sein werde, verlange ich trotzdem als Bürger dieses Landes die gleichen Rechte und Chancen. Wer behauptet, dass Migration ein Problem ist, sagt dass mein ganzes Leben, ja unser aller Leben und vieler anderer Menschen weltweit ein Problem ist. Dagegen müssen wir uns wehren. Migration ist kein Verbrechen, sondern eine Realität auf dieser Welt.

Wir wissen von unseren Verwandten und Freunden: Migration hat viele gute Gründe. Viele Menschen fliehen vor Armut, vor Kriegen, wirtschaftlichen Krisen, vor Umweltverschmutzung und Verfolgung. Viele dieser Gründe hängen mit Ausbeutung und der Geschichte des Kolonialismus zusammen. Viele wandern aus ihrer Heimat aus, weil sie müssen, aber nicht alle. Es gibt auch andere gute Gründe für Migration, die nicht nur für wohlhabende Europäer gelten sollten, wie Familie, Liebe, Neugier, Abenteuerlust, Selbstverwirklichung. Alle sollten das gleiche Recht haben, sich irgendwo auf der Welt ein Leben aufzubauen und glücklich zu werden und nicht nur die, die Glück hatten, mit einem Schweizer Pass oder einem EU-Pass auf die Welt gekommen zu sein. So viele Menschen hier vergessen die einfache Wahrheit: dass niemand etwas dafür geleistet hat, wo er oder sie geboren wurde.

Der 9. Februar macht das Leben schwerer

Nun streiten sich die Schweizer seit dem 9. Februar darum, wie ihr sogenannter „Volkswille“ umgesetzt werden soll. (Was ist das? Wer ist das?) Soll die Schweiz ein Einwanderungsland sein oder soll sie sich national abschotten? Welche Migrantinnen und Migranten nützen den Schweizerinnen und Schweizern wirtschaftlich und welche nicht? Wir stehen daneben und sind erstaunt. Alle sprechen über uns, aber nicht mit uns. Es wird über Einwanderung in der Zukunft gestritten, als hätte sie die Gesellschaft nicht schon längst verändert, als wären wir und unsere Kinder nicht schon längst da. Als könnte man Migration einfach per Gesetz abschaffen. Als ob der Lebenszweck von Migrantinnen und Migranten darin besteht, für die Schweiz zu arbeiten. Als seien Menschen ein ökonomischer Kosten-Nutzen Faktor. Aber wenn wir eines aus der Geschichte der Migration lernen, dann dass Menschen kommen werden, auch ohne Politiker um Erlaubnis zu fragen, und auch wenn die Personenfreizügigkeit mit der EU hier abgeschafft wird. Unsere Brüder und Schwestern werden kommen. Aber unter welchen Bedingungen?

Menschen werden kommen, solange es Gründe dafür gibt. Das kann das Schweizer Stimmvolk nicht verhindern. Aber es kann durch seine Entscheidungen das Leben, derjenigen schwerer machen, die noch kommen werden und die schon da sind. Vergessen wir nicht: ein Viertel der dauerhaften Wohnbevölkerung in der Schweiz hat keine Bürgerrechte. Zehntausende Menschen werden in der Schweiz illegalisiert und putzen ohne Papiere als billige Arbeitskräfte die Wohnungen der Schweizer, arbeiten als Sexarbeiterinnen oder in der Gastronomie. Gibt es deswegen einen Aufschrei in der Schweiz? Nein. Es ist an der Zeit, dass die Sache wieder selbst in die Hand nehmen und fordern, was uns zusteht. Es gibt kein Einwanderungsproblem, es gibt ein Gerechtigkeitsproblem, in der Schweiz, in Europa, weltweit.

Wir sind da. Wir bleiben. Wir werden mehr. Wir fordern Anerkennung.

Uns wird immer gesagt, die Schweiz sei nicht unser Land, wir sollten uns schnell assimilieren, dankbar sein, alles akzeptieren, nett lächeln, arbeiten und die Klappe halten, und für ein bisschen Wohlstand aufhören, an andere zu denken, die noch schlechter dran sind als wir selbst. Teile und herrsche. Wir haben uns allzu lange teilen lassen, in gute und schlechte Ausländer, in assimilierbare und nichtassimilierbare, in nützliche und nicht nützliche Einwanderer, in die erste und zweite Generation, in Migranten aus EU-Nachbarländern und solche aus unzivilisierten Drittstaaten, in Arbeitsmigrant_innen und Flüchtlinge, in legitime Asylbewerber und Asylbetrüger, in Integrationsverweigerer und Multikulti-Exoten, in hochqualifizierte Migranten und einfache Arbeiter_innen, in alte und neue Migration, in Weisse und Schwarze, in Frauen und Männer, in unterschiedliche „Ethnien“ und zunehmend auch in Muslime und Nicht-Muslime. Lassen wir uns nicht mehr gegeneinander ausspielen! Seien wir solidarisch! Denn wir alle erleben rassistische Ausgrenzung – wegen unseres Aufenthaltsstatus, unserer Hautfarbe, unserer Sprache, unseres Namens, unserer Kultur, unserer Lebensweise. Einige von uns sind viel schlechter dran als andere, das stimmt. Doch uns alle eint das Wissen, in diesem Land nicht gleichwertig zu sein und die Sorge, dass dies auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch gelten wird.

Es ist Zeit, dass wir uns zusammenschliessen – auch mit unseren Schweizer Freunden – und uns gemeinsam dagegen zu wehren. Wir sind da. Wir bleiben. Wir werden mehr. Wir fordern Anerkennung. Wir fordern eine offene, solidarische, vielfältige und demokratische Schweiz nicht nur für einen Teil der Bevölkerung, sondern für alle, die hier schon leben und für unsere Brüder und Schwestern, die noch kommen werden.