Über Revolutionen reden: Hadern mit dem Arabischen Frühling

Migration

Von Oliver Thommen – Der Arabische Frühling ist nicht nur ein Umbruch in der arabischen Staatenwelt, er bringt auch die Chance auf eine Neubesinnung im Westen mit sich, wie wir künftig mit islamisch geprägten Regionen umgehen wollen. Nach der Absolvierung eines Veranstaltunsmarathons zum Thema wage ich eine vorläufige Bilanz der hiesigen Befindlichkeit.

Wenn die Proteste in der sogenannten „arabischen Welt“ im sogenannten „Westen“ etwas verändert haben, war es nicht so sehr wie, als dass wir ernsthaft über Demokratie in der arabisch-islamischen Welt reden. Nach fast zehn Jahren Islamkritik war die Stabilisierung der autoritären Regime unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung plötzlich in Frage gestellt. Es wurde offenbar, dass auch Muslime/innen Freiheiten wünschen und Rechte einfordern.
Jedoch traf dieser kosmopolite Aufbruch im Westen auf alte Ängste, wie sie sich nach wenigen Wochen an einer Migrationsdebatte entzündeten. Die Stereotypisierung der Nordafrikaner trat in den Vordergrund, es wurde beschworen, Arbeitsplätze und die Sozialwerke seien in Gefahr.

Intervention oder Zurückhaltung
Das wes(en)tliche Problem ist, dass in unseren Augen die Ereignisse überraschend und für die Region nie dagewesen, also historisch scheinen. Wir sind deswegen gezwungen, Parallelen zu ziehen. „Arabischer Frühling“ ist eines der wichtigsten Schlagwörter, welches letztlich auf das europäische Revolutionsvokabular des 19. Jahrhunderts zurückgreift. Die eigene 250-jährige Geschichte der Demokratisierung wird also bemüht, um aktuelle Ereignisse anderswo zu reflektieren.
Dabei droht die Geschichte der Region selbst vergessen zu werden – im Speziellen das Wirken des „Westens“ in den letzten 150 Jahren, das demokratische Bestrebungen zum eigenen Nutzen vereitelte. Zwar kann aus einer solchen Schuld kein Auftrag entstehen. Die in Libyen intervenierenden Länder hoben aber die alten revolutionären Werte hervor, um ihr Handeln zu legitimieren. Gleichzeitig wird die Opposition in Bahrain oder in Syrien alleine gelassen. Saudi-Arabien (aufgrund seiner ideellen Bedeutung) und der Iran sind dem Westen ohnehin ein rotes Tuch – die Bevölkerung dort könnte nie mit internationaler Unterstützung rechnen.

Eine Schweizer Aussenpolitik
Die Handlungsweise des Westens zeigt, wie wenig dieser sich durch die selber gepredigte Ideologie verpflichtet fühlt, und wie wichtig ihm hingegen die Wahrung eigener Interessen ist. Und auch wenn es nicht einen Nahen Osten gibt und sich die arabisch-islamisch geprägten Staaten voneinander zuweilen grundlegend unterscheiden, müsste, um der Tragweite der Bewegung gerecht zu werden, eine einheitliche Politik betrieben werden – auch von der Schweiz. Revolutionen gutzuheissen, aber den Fall-out (zum Beispiel Flüchtlinge) nicht mitzutragen, ist inkonsequent. Lieber versteckt man sich hinter der Neutralität, als entschlossen der humanitären Tradition gerecht zu werden.
Das Great Game der grossen Player um die Region hat seit diesem Frühling eine Veränderung erfahren. Aber die Ungeduld des Westens könnte die Errungenschaften des Arabischen Frühlings in dessen Sommer oder Herbst noch zu Nichte machen. Die Situation in Syrien zeigt, wie schnell die westlichen Bürger/innen müde werden, sich mit den Problemen in arabischen Staaten abzugeben. Zudem ist ungewiss, was geschieht, wenn demokratische arabische Staaten ein Umdenken in Israel einfordern würden. Der Umbruch könnte letztlich nicht nur auf diese Gemeinschaften beschränkt sein, er wäre – und das wird politisch entscheidend sein – ebenfalls ein Umbruch in unseren Köpfen, wo gewaltige Denkgebäude eingerissen werden müssen.

Oliver Thommen lebt in Basel, studierte Geschichte, Islamwissenschaft und Soziologie und arbeitet als Journalist. Er engagiert sich bei foraus in den Arbeitsgruppen Migration und Identität Schweiz.

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