Passt der Schweizer Schutzstatus «S» für Geflüchtete aus der Ukraine zum temporären Schutz der EU oder welche Risiken erwachsen aus der Parallelität?

Per 12. März 2022 erhalten Geflüchtete aus der Ukraine in der Schweiz den Schutzstatus S, also einen Aufenthalt per Sammelbewilligung, ohne dass individuelle Fluchtgründe geprüft werden. Die EU aktivierte einen ähnlichen vorübergehenden Schutz, eine Woche zuvor, was dem Bundesrat bewog, sich bei der näheren Ausarbeitung des Status S die EU Massenzustromrichtlinie zu konsultieren. Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob die beiden Schutzlösungen aufeinander abgestimmt und für Schutzsuchende allenfalls kumulierbar sind oder ob Ukrainer*innen aufgrund dieser Doppelspurigkeit Nachteile erwachsen?

Von Marion Panizzon

Seit dem Ausbruch der russischen Militärinvasion am 24. Februar 2022 flüchtet ein Zustrom schutzsuchender Ukrainer*innen nach Europa und in die Schweiz. Aufgrund der zunehmenden Auslastung der Asylsysteme und der Gefährdung einer gesamten Gruppe von Menschen, hat am 4. März 2022 der europäische Rat einstimmig, auf Vorschlag der Innenminister*innen, die EU-Massenzustromrichtlinie 2001/55 vom 20. Juli 2001 per Durchführungsbeschluss (EU) 2022/381 aktiviert. Dabei hat der Rat einen Massenzustrom von Vertriebenen aus der Ukraine gemäss Artikel 5 der Richtlinie festgestellt und prospektiv auf 4 Mio. Geflüchtete eingeschätzt, um zeitgleich den vorübergehenden Schutz zu aktivieren. Ukrainer*innen erlangen bei Einreise in die EU, rückwirkend per Stichtag 24. Februar 2022, für 12 Monate einen unmittelbaren Aufenthalt, der jeweils in Sechsmonatszeiträumen verlängerbar ist, bis maximal ein Jahr, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen.

Am 11. März 2022 zieht die Schweiz nach und aktiviert ihrerseits den «Schutzstatus S», mit Stichtag vom Samstag, 12. März 2022. Zusätzlich zu den Kantonen und Hilfswerken, hat der Bundesrat den Status S europarechtlich konsultiert und an die EU-Massenzustromrichtlinie angepasst. Interessanterweise hat die Schweiz die Massenfluchtrichtlinie von 2001 nicht als Teil der Schengen-Assoziierung von 2004 mitübernehmen müssen. Stattdessen hat die Schweiz 1998 nach den Kriegen im Kosovo den Status S (Art. 66 AsylG) geschaffen. Die EU-Richtlinie ist jedoch hinsichtlich Voraussetzungen und Rechten um einiges günstiger als der Schweizer asylgesetzliche Minimalstandard von Art. 66 AsylG für Schutzsuchende «S». Deshalb verordnet der Bundesrat dieser Tage für Ukrainer*innen einen Status «S», der etwas günstiger ist – und zwar hinsichtlich der Reisefähigkeit im Schengenraum, der Erwerbsfähigkeit (Art. 75 AsylG ohne 3-monatige Wartefrist) und der Definition der Gruppe der schutzbedürftigen Personen nach Art 68 AsylG. Auf Drängen des UNHCR Schweiz vom 9. März hat sich der Bundesrat indirekt die Subsidiaritätsklausel (Art. 3) der Richtlinie zunutze gemacht, die es Mitgliedstaaten erlaubt, günstigere Voraussetzungen zu schaffen. Beispielsweise erwähnt der EU-Durchführungsbeschluss die Möglichkeit, die Definition der Gruppe schutzwürdiger Personen, noch weiter zu fassen, als es die Richtlinie tut.

Gemäss dieser erhalten ukrainischer Bürger*innen, Drittstaatsangehörige, Asylbewerber und Staatenlose, die im Zeitpunkt des Kriegs in der Ukraine weilten, temporären Schutz in der EU, aber nur, wenn sie nicht sicher oder dauerhaft in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten; den Mitgliedstaaten der EU bleibt es unbenommen den Schutz auf weitere Personengruppen auszudehnen, wie beispielsweise auf Drittstaatsangehörige oder Studierende, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in der Ukraine weilten und deren Rückkehr in ihren Herkunftsstaat unmöglich war. Dieser günstigeren Variante scheint sich die Schweiz nun anzuschliessen.

Trotzdem wird es Unterschiede zwischen Status S und dem temporären Schutz der EU geben und diese könnten unter Umständen für in die Schweiz geflüchtete Ukrainer*innen Nachteile bringen, die sie in der EU nicht hätten.

Erstens riskieren schutzsuchende Ukrainer*innen einen quasi-Dublin-Transfer, wenn sie einen temporären EU-Schutz erhalten, sich dann aber später für die Schweiz entscheiden. Je nach dem müssten sie zurück ins Erstregistrierungsland transferiert werden. Zwar lässt Art. 11 der Richtlinie den Schutzsuchenden die Wahl des Zielstaates frei, doch die Schweiz könnte dann eine Aufnahme unter „S“ mit Verweis auf einen schon bestehenden EU-Schutz verweigern. Gerade beim Schweregrad der Flucht vor Kriegshandlungen sollten solche Transfers und Sekundärbewegungen Geflüchteten erspart bleiben. Weil der europäische Schutz eo ipso automatisch ab Eintritt in die EU greift, wie Rechtsexperte Daniel Thym argumentiert, müssten Schutzsuchende, die weiter in die Schweiz reisen, sich explizit für den Status «S» entscheiden und verlieren denn den EU Schutz, denn eine Kumulation beider, des Schutzstatus der EU und der CH, scheint europarechtlich unmöglich.

Zweitens schützt die EU-Richtlinie das Recht jeder Schutzsuchenden, jederzeit ein Gesuch um Anerkennung als Flüchtling anzustrengen (Art. 16), was auch die Stellungnahme der EKM zum Schutzstatus S eindringlich fordert. Doch für Schutzsuchende aus der Ukraine, die aufgrund individueller Verfolgung in der Schweiz ein Gesuch um Anerkennung als Flüchtling stellen, ist Stand heute unklar, ob ihnen für die Verfahrensdauer der vorübergehende Schutz sistiert wird (Art. 69 Abs 3 AsylG). Zwar gilt die Ausschliesslichkeit des ordentlichen Asylverfahrens in Bezug auf den temporären Status auch in der EU, doch immerhin stellt Art. 19 dieser klar: der Schutz greift, automatisch, bei negativem Ausgang des ordentlichen Verfahrens. Bisher war das schweizerische Asylgesetz eher auf den umgekehrten Fall, aus den Kosovo-Kriegen her, angedacht: ein ordentliches Asylverfahren wird dann sistiert, wenn ex post, eine Gruppenzugehörigkeit „S“ anerkennt wird (Art. 69 Abs 3), Heute stellt sich die Frage anders: kann die Schutzsuchende aus der Ukraine, der zuerst einen Status S gewährt wird parallel dazu ein ordentliches Asylverfahren anstrengen, ohne den Status S zu verlieren? Wird Sie bei negativem Asylentscheid automatisch wieder in den Status S zurückfallen? Solche Fragen beschäftigen den Bundesrat für die Ukraine-Situation, die anders verläuft als beispielsweise die Fluchtbewegungen aus dem Kosovo-Krieg.

Drittens gibt es noch die Unklarheit mit der Biometrie. Für die Schweiz gelten Ukrainer*innen als visumsbefreit gemäss der Verordnung (EU) 2018/1806 und der Anhänge I und II die als acquis aus dem Schengen Assoziierungsabkommen (SAA) übernommen wird. Schätzungen zufolge wird die Hälfte der Geflüchteten von schon länger russisch-annektierten Gebieten um das Schwarze Meer stammen und nicht mit biometrischen Dokumenten ausgestattet sein. Übernimmt die Schweiz die strenge, EU-Lösung oder sieht sie vollständig von Biometrieanforderungen ab?

Schliesslich ist zu erwarten, dass der Bundesrat den Stellungnahmen der EKM und UNHCR folgt, welche einen ausgedehnteren Familiennachzug fordern, als nur die Kernfamilie wie es Art. 74 AsylG vorsähe. Vorläufig ist noch unklar, ob die Verordnung des Bundesrates sich der EU-Richtlinie und dem Durchführungsbeschluss anpasst, die über die Kinder, Ehegatten, auch registrierte Partner und andere enge Verwandte, die in demselben Familienverband lebten oder von einer dieser Personen abhängig sind, einbezieht. Gerade weil «S» als «rückkehrorientierten» Status eingestuft wird, wäre es umso sinnvoller, den Familiennachzug heute möglichst weit auszulegen.

Insgesamt trägt die enge Zusammenarbeit CH-EU bei, ein gesamteuropäisches Schutznetz für geflüchtete Ukrainer*innen aufzubauen, mitsamt Mobilitätsrechten und dem Familiennachzug. Würde die Schweiz jedoch die EU Massenzustromrichtlinie als Schengen-Besitzstand automatisch umsetzen, könnten schutzsuchende Ukrainer*innen schon heute in der Schweiz innerhalb eines einheitlichen europäischen Schutzraums leben.

 

 

Image credits: „Maikäfer, flieg!“ Zeichnung von Emil Schmidt, Gartenlaube 1879 (mit Änderung von Marion Panizzon)