«Nein! Nein! Nein!» – Wir, die neuen Bewahrer

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Willkommen in der neuen geistigen Landesverteidigung: Wie die fortschrittlichen Kräfte dieses Landes zu Bewahrern werden mussten und wieso das gut und gleichzeitig gefährlich ist.

 

Noch nicht allzu lange ist her, da war zu Hause am Tisch oder in der Bar noch allen klar, von wem die Rede ist, wenn man von der «Nein»-Partei sprach. EWR? Nein! Uno? Nein! Frauenstimmrecht? Nein! Doch das waren die alten Zeiten. Die Verweigerungshaltung blieb zwar, doch das Nein wurde zum Ja: Ja zur Minarett-Initiative! Ja zur Masseneinwanderungsinitiative! Ja zur Ausschaffungsinitiative! Ja zur Durchsetzungssinitiative! Und die politischen Widersacher? Ihnen bleibt momentan das schwarze, dreisprachige Nein auf weissem Hintergrund; das Nein neben dem Stiefel, der das Bundeshaus zertritt; das Nein über der Abrissbirne, welche die Helvetia zerdrückt.

Eine noch selten dagewesene politische Allianz des gesamten zivilgesellschaftlichen und politischen Spektrums links der SVP ist zu sehen: NGO, Kirchen, Jugendverbände, Kleinstparteien, Künstler, Musiker, Magazine, Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter, Stadträte, Verbände … die Liste ist erweiterbar. Die alle vereinende Botschaft: Die Schweiz ist in Gefahr. Die Demokratie, die Gewaltenteilung, die Verhältnismässigkeit, die Humanität. Und man hat «Angst». Angst davor, dass hier etwas im Gange ist, was totalitär riecht.

Geistige Landesverteidigung reloaded

Schweizer Werte verteidigen? Wehret den totalitären Tendenzen? Es sind eigentlich Narrative aus der Zeit der Geistigen Landesverteidigung, die während den 1930er bis in die 60er Jahre die als schweizerisch deklarierten Werte und die Abwehr der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismen zum Ziel hatte. Auch heute wird auf die Schweizer Werte gepocht, auch heute werden Gefahren gezeichnet, auch heute «hat man Angst». Nur ist das alles plötzlich nicht nur mehr den Rechten vorenthalten, der Feind nicht länger mehr nur im Osten.

Die neue geistige Landesverteidigung ist, so scheint es, gleichzeitig auch ein Kampf um dieselbe. Wer siegt, definiert die Schweiz; was sie ausmacht, ihre Werte. Und darum stehen sie plötzlich alle zusammen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, Jungfreisinnige und Jungsozialisten und kämpfen gegen die Abrissbirne, gegen das Zerstören der Schweizer Werte, für 1848.

Diese neue geistige Landesverteidigung kann Gutes bedeuten: Vielleicht wirkt sie als zündendes Element für einen neuen politischen Aktivismus über Parteigrenzen hinweg. Als Geburtsstunde einer durchschlagskräftigen Kraft, die thematische Territorien zu beackern wagt, welche bisher von der SVP dominiert werden. Als Befreiung von bisher okkupierten Wörtern wie «Volk». Als Momentum, von dem dereinst eine junge Generation sage könnte, es hätte sie politisiert.

Den Ausfall aus dem Reduit wagen

Doch soweit sind wir noch nicht. Momentan gilt es erst mal zu verhindern. Als «Aufstand für eine neue Schweiz» beschrieb WOZ-Redaktor Kaspar Surber den jetzigen Abstimmungskampf. In Tat und Wahrheit ist es aber ein Aufstand für eine bestehende Schweiz, ein Aufruf des Bewahrens, eben: eine geistige Landesverteidigung. Es geht um keine Visionen, keine Pläne, es geht um die Erhaltung von Errungenschaften. Das ist überbürgerlich. Das ist konservativ.

Die DSI-Gegner sind damit im hintersten Winkel des Reduits angelangt, in welches sie nie getrieben werden wollten. Sie sind es teilweise, weil sie sich treiben liessen. Sie sind es teilweise auch aus Mangel an Alternativen: Der Dauerbeschuss mit Initiativen, die es zu bekämpfen gilt, ist Konzept. Der Kampf gegen Initiativen wie die MEI oder die DSI bindet Ressourcen. Das führt zu einem Allokationsproblem: Wer ständig verteidigen muss, kann schwerlich gestalten. Mit der «Landesrecht vor Völkerrecht»-Initiative sowie dem Burkaverbot sind bereits weitere Ressourcenfresser am Auffahren. Das hat System.

Doch daraus gilt es auszubrechen. Gerade die frischen Kräfte beim Kampf gegen die Durchsetzungsinitiative bieten Hoffnung, dass zukünftig auch eigene Themen, eigene Ideen dominieren können und nicht nur in der Dunkelheit des Reduits an Wände gekritzelt werden. Unabhängig vom Ausgang am Sonntag: Hier wurde ein Momentum geschaffen, welches es zu nutzen gilt. Ansonsten bleibt man Bewahrer. Es wäre gut, wenn auf die Verteidigung Bewegung folgen würde.