Feminismus in Armenien nach der Samtenen Revolution

Während der Samtenen Revolution im Jahr 2018 protestierten Frauen aktiv gegen das alte Regime von Ex-Präsident Serzh Sargsyan. So war Maria Karapetyan eine der Schlüsselfiguren und spätere Mitgründerin der «Reject Serzh»-Bewegung, welche sich zur «MyStep»-Koalition entwickelte. Und Lena Nazaryan, eine ehemalige Umweltaktivistin, ist heute die stellvertretende Sprecherin des neuen Parlaments. Die aktive Beteiligung von Frauen in der Samtenen Revolution hat die soziale Wahrnehmung der Rolle der Frau in Armenien verändert: im Nationalparlament sind heute 15 von 65 Abgeordnete der «My Step»-Koalition weiblich. Obwohl Geschlechtergleichheit vermehrt in der öffentlichen und politischen Debatte thematisiert wird, hat Armenien noch einen langen Weg vor sich. Für den nachhaltigen Wandel ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft Druck auf die armenische Regierung ausübt und gleichzeitig die armenischen Aktivistinnen und Aktivisten unterstützt.

Häusliche Gewalt in Armenien: Weit verbreitet und doch ein Tabu

Nebst globalen Themen liegt für armenische Feminist*innen ein besonderer Fokus auf dem Thema «häusliche Gewalt». Obwohl das Thema in den vergangenen Jahren in armenischen Medien vermehrt thematisiert wurde, hat eine Social-Media-Kampagne es erst kürzlich stärker ins Rampenlicht gerückt. Im Mai 2019 berichtete eine Nachrichtenplattform über die versuchte Vergewaltigung einer Tschechin in Armenien. Die Reportage motivierte hunderte von Frauen, ihre eigenen Erfahrungen auf Facebook und Twitter unter dem Hashtag #Բռնության_ձայնը («Stimme der Gewalt») zu teilen. Ähnlich wie #meToo half diese Bewegung, das Tabu rund um häusliche Gewalt zu brechen und zu zeigen, wie verbreitet das Problem in Armenien ist. Viele Journalistinnen und Journalisten nahmen dies zum Anlass, die ungenügende Gesetzeslage anzuprangern und Änderungen zu fordern.

Häusliche Gewalt ist in Armenien weit verbreitet. Die meisten Fälle werden jedoch nicht gemeldet. Eine landesweite Studie aus dem Jahr 2016 ergab, dass 22 Prozent aller Frauen schon einmal physische Gewalt und 45 Prozent psychologische Gewalt erlitten hatten. 75 Prozent der Befragten betrachteten Gewalt zwischen Paaren in bestimmten Fällen sogar als legitim. Häusliche Gewalt wird oft als Familienangelegenheit behandelt und deshalb von der Polizei nicht weiter untersucht. Und selbst wenn Fälle vor Gericht landen, fällt die Strafe meist nur gering aus. Gewalt zwischen unverheirateten Paaren wird ausserdem gesetzlich nicht als häusliche Gewalt betrachtet. Zudem bedeutet die finanzielle Abhängigkeit vom Partner für viele Frauen ein unüberwindbares Hindernis, sich vom gewalttätigen Partner zu trennen – dies umso mehr, als dass viele Männer ihren Frauen jegliche Arbeitstätigkeit verbieten.

2017 wurde in Armenien ein Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet, welches 2018 in Kraft trat. Obwohl dies ein erster Schritt in die richtige Richtung ist, wurde das Gesetz von vielen als unzureichend kritisiert. Wie Menschenrechts-Aktivistinnenund Aktivisten und die Menschenrechtskommissarin des Europarates befürchten, könnten einige Formulierungen im Gesetz problematische Geschlechterrollen stützen und keine realen Verbesserungen bewirken. Zum Beispiel werden im Gesetz weit verbreitete Probleme wie Schuldzuweisungen an das Opfer, der gesellschaftliche Druck, beim gewalttätigen Partner zu bleibenund die hohe Toleranz gegenüber häusliche Gewalt nicht vollständig behandelt. Das Gesetz erwähnt zwar einen grundsätzlichen Bedarf an Frauenhäusern, doch die genaue Zahl der benötigten Schutzeinrichtungen wurde nicht festgelegt. Im Jahr 2018 berichtete Human Rights Watch, dass es in ganz Armenien nur zwei Frauenhäuser gibt (beide in der Hauptstadt Yerevan), dies bei einer Gesamtbevölkerung von 2.9 Millionen Menschen – ein eindeutiger Mangel. Zudem hat Armenien das Ratifizierungsverfahren der Istanbul-Konvention begonnen, ein Abkommen des Europarats zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. In diesem Zusammenhang hat Armenien um eine Stellungnahme der Venedig-Kommission (eines Beirats des Europarates) über die rechtsstaatlichen Auswirkungen der Ratifizierung dieses Abkommens gebeten, doch bereits die blosse Präsentation dieser Stellungnahme letzten Oktober löste grosse Empörung in den konservativen Kreisen des Landes aus.

Gesellschaftlicher Wandel durch neue Medien

Soziale Medien spielen in Armenien eine entscheidende Rolle dabei, in der Gesellschaft vorherrschende frauenfeindliche Normen zu bekämpfen und Frauenrechte zu fördern. So ist «Akanjogh» beispielsweise der erste armenische Podcast über Feminismus. Dort werden Themen wie toxische Maskulinität, weibliche Objektifizierung oder die Bedeutung des Wortes «Feminismus» diskutiert. Auch Instagram dient als Plattform für Frauen, um ihre Perspektive auf das Thema «Gender» und den Beitrag von Armenierinnen zu diesem Thema zu thematisieren. Solche Initiativen sind nicht nur nützlich, um Geschlechtervorurteile zu bekämpfen, sondern auch, um für lokale NGOs zu werben. Auch Online-Nachrichtenportale wie EVN Report setzen sich mit LGBT- und Frauenrechten auseinander. In längeren, gut recherchierten Artikeln berichten sie über häusliche Gewalt und Frauen in der Politik. EVN Report hat in der Serie «Aus den vergessenen Seiten der Geschichte» zudem über die Rolle von Frauen in der armenischen Kultur und Geschichte geschrieben. Seit der Revolution hat sich EVN Report als vertrauenswürdige Quelle positioniert und hofft, dadurch Gender-Themen in die armenische Öffentlichkeit zu bringen. Ausserdem setzen sich öffentliche Persönlichkeiten wie Anna Hakobyan, die Frau des neuen Premierminister, dafür ein, dass sich Frauen stärker in der Politik engagieren, um interne sowie internationale Probleme (wie der Nagorno-Karabakh Konflikt) zu lösen. Letztlich sind lokale NGOs wie das Women’s Resource Center Schlüsselakteure, wenn es darum geht, Frauenrechte zu schützen und zu fördern. Das Center wurde im Jahre 2003 gegründet und betreibt eine Geschlechtergewalt-Hotline sowie ein Krisenzentrum für allgemeine und Rechtsberatung, es publiziert Berichte über Geschlechtergleichheit in Armenien und lobbyiert im Parlament, um konservative Gesetze zu ändern.

Zweigleisiges Vorgehen für nachhaltige Änderung

Für einen nachhaltigen Wandel braucht es sowohl top-down als auch bottom-up-Ansätze. Es ist wichtig, strengere Gesetze zu erlassen und diese auch effektiv durchzusetzen. Die internationale Gemeinschaft sollte Druck auf die armenische Regierung ausüben, damit diese der geschlechtsspezifischen Gewalt ein Ende setzt – beispielsweise, indem sie die Istanbul-Konvention ratifiziert und umsetzt (die Konvention traf 2018 für die Schweiz in Kraft). Das ist für den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt unerlässlich, vor allem wenn es um den Aufbau eines landesweiten Netzes an Frauenhäusern und finanzielle Unterstützung der Opfer geht.

Zudem sollten Länder wie die Schweiz mit lokalen NGOs zusammenarbeiten, da diese die örtlichen Gegebenheiten besser kennen. Doch die Schweiz sollte sich nicht nur auf die Förderung von bestehenden NGOs beschränken, sondern auch einzelne Aktivistinnen und Aktivisten sowie Grassroot-Bewegungen unterstützen. EVN Report wurde beispielsweise mit Mitteln des US-amerikanischen «National Endowment of Democracy» gegründet und benötigt Spenden, um unabhängig zu bleiben. Der Podcast «Akanjogh» wurde vom Media Initiative Center der US-Botschaft finanziell und technisch unterstützt. Durch solche Initiativen kann sich eine neue Generation Feministinnen Gehör verschaffen und Armeniens Zukunft mitbestimmen.

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