Die Verantwortung des Heimatstaates gegenüber Kindern von ausländischen IS-Kämpfern: Das Kindeswohl als Handlungsmaxime

Die Frage, ob die Schweiz in der Verantwortung als Heimatstaat ihre terroristisch motivierten Reisenden zurückholen soll, beschäftigte den Bundesrat stark. Seit Zusammenbruch der Organisation Islamischer Staat befinden sich mehr als 55 000 mutmassliche IS-Anhänger aus über 50 Staaten in Syrien, Irak und Libyen in Gefangenschaft. Ebenfalls inhaftiert wurden deren Frauen und Kinder, einige davon mit Schweizer Staatsangehörigkeit. Bisher wollte sich keiner der Heimatstaaten der Verantwortung über die Kinder annehmen. Dies ist jedoch mit besonderem Blick auf das Kindeswohl, welches für die Schweiz als Handlungsmaxime gelten sollte, höchst bedenklich.

Richtschnur Kindeswohl

Auch die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention (KRK) ratifiziert, aus welcher sich als leitendes Grundprinzip unter anderem die vorrangige Beachtung des Kindeswohls nach Art. 3 KRK ergibt. Mit dem Kindeswohl als Handlungsmaxime soll sichergestellt werden, dass die Rechte der KRK vollständig und wirkungsvoll wahrgenommen werden können.

Beim Kindeswohl handelt es sich um ein dreifaches Konzept:

  • Als unmittelbar anwendbare Bestimmung kann das Kindeswohl direkt vor Gericht geltend gemacht werden.
  • Als Verfahrensregel schränkt das Kindeswohl staatliches Handeln ein. Deshalb muss der Staat bei seinen Massnahmen begründen, inwiefern er dem Kindeswohl bei seinen Entscheidungen Rechnung getragen hat.
  • Als Rechtsgrundsatz muss eine gesetzliche Bestimmung im Lichte des übergeordneten Kindesinteresses interpretiert werden. 

Die Schweiz ist nach Art. 2 KRK verpflichtet, alle Rechte der Konvention zu gewährleisten. Darunter fällt nach Art. 39 KRK auch die Verpflichtung, alle geeigneten Massnahmen zu treffen, um die physische und psychische Genesung und die soziale Wiedereingliederung von Kindern zu fördern. Der Rehabilitation muss insbesondere dann Rechnung getragen werden, wenn das Kind Opfer eines bewaffneten Konflikts oder irgendeiner anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wurde.

Schweizer Kinder in den Internierungslagern von Al-Hol

Auch für den Bundesrat ist es mit Blick auf das Kindeswohl schwer abzustreiten, dass ein Internierungslager kein Ort ist, wo ein Kind leben und aufwachsen sollte. Unter der Internierung von Zivilpersonen wird im humanitären Völkerrecht die nicht strafrechtliche Inhaftierung von Personen, welche eine Gefahr für die Sicherheit darstellen können, verstanden. Die Internierung ist daher von einem strafrechtlichen Freiheitsentzug zu unterscheiden. Die Frauen und Kinder in Al-Hol wurden aufgrund ihrer Nähe zu den IS-Kämpfern interniert, denn die Verantwortlichen fürchten, dass die Frauen der IS-Kämpfer einen nicht unerheblichen Teil im Kampf für den IS beigetragen haben. Inwiefern jedoch die Kinder eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, ist fraglich. 

Die Verantwortlichen des Lagers liessen verlauten, dass von einer juristischen Verfolgung der Gefangenen im Annex, wo sich die ausländischen Frauen und Kinder befinden, abgesehen wird. Zu deren rechtlichen Status äusserten sich die Zuständigen nur insoweit, als dass sich die Frauen und Kinder dort einzig zum Transfer in die Heimatstaaten befänden. Aus diesem Grund ersuchten die Verantwortlichen in den vergangenen Monaten die Heimatstaaten bereits mehrmals darum, ihre Staatsangehörigen zu repatriieren, zumal sie mit der momentanen Situation in den Lagern überfordert sind.

Allein in Al-Hol sind 11’200 ausländische Frauen und Kinder, darunter unzählige Waisen, interniert. Etwa zwei Drittel dieser Kinder sind unter zwölf Jahre alt. Zahlreiche sind bereits seit zwei Jahren in Al-Hol gefangen. NGOs berichten seit Monaten über die desolaten hygienischen Zustände und die akute Nahrungsmittelknappheit in den Lagern. Die Bedingungen im Annex sind laut den Berichten noch um ein Vielfaches prekärer.

Die Kinder in den Internierungslagern konnten ihr Schicksal nicht wählen. Ein Grossteil von ihnen wurde in das Regime der Organisation Islamischer Staat hineingeboren, andere wurden von ihren Eltern in den Dschihad mitgezogen. Unter diesen Kindern befinden sich nach den Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes mindestens sieben minderjährige Schweizerinnen und Schweizer.

Wie lange die ausländischen Frauen und Kinder im Annex gefangen sein werden, ist ungewiss. Da sie nach den Aussagen der Verantwortlichen des Internierungslagers eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, müssen sie bis auf Weiteres interniert werden. Weil jedoch von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen wird, können die Frauen und Kinder keinen Rechtsweg beschreiten. Die Situation im Nordosten Syriens hat sich mit dem Einmarsch der türkischen Truppen verschlimmert. Die Türkei und Russland haben sich zwar momentan auf einen Waffenstillstand geeinigt. Die Lage in Al-Hol spitzt sich jedoch weiter zu, denn die türkischen Besatzungstruppen unterbrechen regelmässig gezielt die Wasserversorgung grosser Teile Nordsyriens. Darum liegt es nun erst recht in der Hand der Heimatstaaten, die dem Kindeswohl verpflichtet sind, den Kindern in Al-Hol einen Weg zurück in ein kindergerechtes Leben zu bieten.

Dieser Blog-Beitrag ist der erste in einer Reihe über die Verantwortung des Heimatstaates gegenüber Kindern von ausländischen IS-Kämpfern. Den zweiten Blog-Beitrag der Serie, der sich mit der Frage beschäftigt, wie den Schweizer Kindern in Al-Hol geholfen werden kann, können Sie hier lesen.

 

Image from Michael Gaida from Pixabay

https://unsplash.com/photos/GAEvM4qvlBk