Der EGMR erklärt Beschwerden für unzulässig: Strassburg will sich am Minarettverbot noch nicht die Finger verbrennen

Völkerrecht

Von Aglaja Schinzel Die ersten Klagen gegen das Minarett-Verbot vor dem EGMR sind glimpflich ausgegangen. Der Gerichtshof ist nicht darauf eingetreten, weil die Kläger nicht vor hatten, ein Minarett zu bauen und daher vom Verbot nicht direkt betroffen sind. Über die Vereinbarkeit des Minarettverbotes mit der EMRK ist damit aber noch nichts entschieden.

Als das Volk am 29. November 2009 die Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ mit einer Mehrheit von 57.5% annahm, war bereits voraussehbar, dass über die Völkerrechtskonformität dieses neuen Verfassungsartikels früher oder später der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheiden würde. Auf einen solchen Entscheid werden wir nun aber noch einige Zeit warten müssen. Denn am 28. Juni 2011 erklärte der EGMR zwei Beschwerden gegen das Minarett-Verbot für unzulässig. Die Beschwerdeführer hatten die Unvereinbarkeit des neuen Verfassungsartikels (Art. 72 Abs. 3 BV, „Der Bau von Minaretten ist verboten“) mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gerügt. Der Gerichtshof begründete seinen Entscheid damit, dass es sich bei beiden Beschwerden um eine actio popularis handle, um eine Klage also, die im öffentlichen Interesse angestrengt wird, ohne dass der Beschwerdeführer selber besonders betroffen ist. Solche Klagen sind vor dem EGMR nicht zulässig. Die Beschwerdeführer seien keine direkten Opfer, da sie selber nicht aktiv versucht hätten, ein Minarett zu bauen und ihnen dies nicht aufgrund des neuen Verfassungsartikels verboten worden sei. Auch hätten sie keine indirekte Opferstellung, wie es beispielsweise die Familie eines Verstorbenen haben kann, die stellvertretend für dessen Rechte kämpft.

Keine potentiellen Opfer

Weiter erklärt der EGMR, die Beschwerdeführer seien auch keine potentiellen Opfer. In Ausnahmefällen erkennt der Gerichtshof Personen, die von einem Sachverhalt beeinträchtigt werden könnten, als potentielle Opfer einer Konventionsverletzung an und räumt ihnen somit eine Opferstellung ein, obwohl sie nicht direkt betroffen sind. Dies sei hier aber ebenso nicht der Fall, da die Beschwerdeführer nicht argumentiert hätten, sie könnten in nächster Zeit planen, eine Moschee mit Minarett zu bauen. Die blosse Möglichkeit, dass dies in ferner Zukunft geschehen möge, war nach Auffassung des EGMR nicht ausreichend. Denn egal, ob es sich um ein direktes, indirektes oder potentielles Opfer handle, müsse ein Bezug bestehen zwischen dem Beschwerdeführenden und dem geltend gemachten Nachteil.

Was ist freie Glaubensausübung?

In einem der beiden Entscheide erklärt der Gerichtshof seinen Standpunkt folgendermassen: Das Minarettverbot stelle das Bauen von Minaretten nicht unter Strafe und sei deshalb nicht geeignet, das Verhalten des Beschwerdeführers zu beeinflussen. Es stehe ihm weiterhin frei, seine Religion auszuüben und sich öffentlich für eine Änderung des Verfassungsartikels einzusetzen. Dieser Satz könnte dahingehend interpretiert werden, eine freie Religionsausübung sei nach Ansicht des EGMR auch ohne Minarett möglich. Es ist deshalb darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Frage, ob durch ein Minarettverbot die Religionsfreiheit verletzt sei, nicht materiell geprüft hat. Mit Bezug auf den Beschwerdeführer ist der Satz deshalb so zu verstehen, dass dieser in der Ausübung seiner Religion nicht beeinträchtigt ist, da er eben keine konkreten Pläne hatte, ein Minarett zu bauen. Über die Frage, ob ein Minarett von der Religionsfreiheit geschützt ist, ist damit noch nichts gesagt. Die Formulierung des EGMR ist allerdings missverständlich und hätte von diesem besser erklärt werden müssen. Das Verneinen der Opferstellung der Beschwerdeführer hat zur Folge, dass der EGMR auf die Frage, ob das Minarettverbot eine Verletzung des Diskriminierungsverbots darstellt, kaum eingeht. Das ist schade, da die Beschwerdeführer ihre Opferstellung gerade so begründen: Ist ein Artikel in der Bundesverfassung, der den Bau eines religiösen Wahrzeichens einer bestimmten Religion verbietet, nicht per se im Bezug auf die Religionsfreiheit diskriminierend für Anhänger dieser Religion? Immerhin ist den zwei Entscheiden zu entnehmen, dass diese durch eine Mehrheit der sieben Richter zustande kamen. Die Richter konnten sich offensichtlich nicht einig werden. Interessant wäre es, den Standpunkt der Minderheit der Richter zu erfahren. Dieser wird aber gewohnheitsgemäss bei solchen Unzulässigkeitsentscheiden nicht publiziert.

Aufgeschoben statt aufgehoben

Über die Sicht des EGMR zur potentiellen Opferstellung lässt sich streiten. Seine Aussage jedoch, dass die Schweizer Gerichte im Falle einer Anwendung des Minarettverbots in der Lage seien, selber über die Vereinbarkeit des neuen Verfassungsartikels mit der EMRK zu entscheiden, ist gerechtfertigt. Damit gibt der EGMR die Verantwortung an die Schweizer Gerichte zurück. Hier stellt sich aber folgende Problematik: Wie ist die Balance zwischen Volksinitiativen und der Europäischen Menschenrechtskonvention politisch und rechtlich auszugestalten? Hat das Schweizer Parlament diese Frage mit der Gültigkeitserklärung der Initiative nicht bereits beantwortet? Eben nicht. Es hat nur darüber entschieden, ob die Initiative zwingendes Völkerrecht verletzt. Die EMRK ist nicht zwingendes Völkerrecht – aber verbindliches. Der Bundesrat empfahl dem Parlament in seiner Botschaft die Ablehnung der Initiative unter anderem deshalb, weil diese gegen die Religionsfreiheit verstosse und das Diskriminierungsverbot missachte. Die Last, zu entscheiden was gewichtiger ist, das Recht des Einzelnen oder die Macht der Mehrheit, liegt nun auf den Schultern der Schweizer Gerichte. Diese werden viel Unmut auf sich ziehen, egal, wie sie entscheiden. Auch sie werden darum froh sein, wenn sie einen Grund finden, nicht auf eine Klage eintreten zu müssen. Über die Konsequenzen eines solchen Entscheides und Sinn und Unsinn dieser Möglichkeit gibt das foraus-Paper „Volksinitiativen: Bausatz für eine Reform“ Auskunft.

Aglaja Schinzel ist Mitglied der foraus-Arbeitsgruppe Völkerreicht und arbeitet als Substitutin in einer Zürcher Anwaltskanzlei.

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