Strategie oder Zeitgewinn? Was steckt hinter dem halboffiziellen Begriff ‚Bilaterale III’?

Europe

Von Elisa Ravasi – Die neue Struktur der EU und das laufende Wahljahr in der Schweiz stellen neue Herausforderungen an die bilateralen Beziehungen. Die Schweiz sollte die knappe Zeit nutzen, statt schwammige Begriffe zu fabrizieren.

Heute Dienstag ist Aussenministerin Micheline Calmy-Rey nach Brüssel gereist um den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, den EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso sowie den Vorsitzende des EU-Parlaments Jerzy Buzek zu treffen. Ziel des Besuches ist es (wie schon vor sechs Monaten beim Besuch von Doris Leuthard), im Allgemeinen die nächsten Schritte in der Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz-EU festzulegen und den aktuellen laufenden Verhandlungen zu neuem Schwung zu verhelfen. Die EU will aber erst die institutionellen Fragen klären und erst nachher die sachlichen Verhandlungen über die einzelnen Dossiers in Angriff nehmen. Dafür wurde im Herbst eine gemischte Arbeitsgruppe Schweiz-EU eingesetzt, die aber noch keine gemeinsame Lösung finden konnte.

Die neue EU nach Lissabon

Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages wurde die Rolle der EU als aussenpolitischer Akteur gestärkt. Die EU hat mit Inkrafttreten des Vertrages Rechtpersönlichkeit erlangt und der neu eingesetzte Europäische Auswärtige Dienst (EAD) erlaubt ihr kohärenter und entschlossen zu handeln. Zusätzlich hat das EU-Parlament an Einfluss gewonnen und kann jetzt über internationale Verträge mitentscheiden.

Das hat einen grossen Einfluss auf die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU. Die EU sieht die Schweiz als einen Partner unter anderen und sie ist nicht mehr bereit, spezielle ad hoc Lösungen zu suchen. Sie will ein System einsetzten, welches die bilateralen Beziehungen vereinfacht und die Rechtsunsicherheit verringert. Diese Entwicklung zeigt sich auch in den jüngsten Schlussfolgerungen der 27 Aussenminister über die Beziehungen zur Schweiz vom Dezember 2010.

Die Strategie der Schweiz zur Europapolitik

Die Klärung der institutionellen Fragen ist auch für die Schweiz von Interesse. Eine Antwort ist aber schwierig zu finden, da die Grundanliegen der zwei Parteien sich zuwiderlaufen: einerseits der Wunsch nach einer möglichst automatischen Rechtsübernahme und andererseits die Verteidigung grösstmöglicher Souveränität und möglichst viel Demokratie.

Als Reaktion auf die Kritik aus Brüssel, zu wenige Zugeständnisse in der Diskussion zu den institutionellen Fragen zu machen, hat der Bundesrat seine Strategie überdacht und kam zum Schluss, dass ein “gesamtheitliches und koordiniertes Vorgehen aller aktuellen bilateralen Dossiers am meisten Erfolg verspricht”. Das sollte es der Schweiz ermöglichen, alle Dossiers gleichzeitig zu verhandeln, die Zugeständnisse, die bei den einen Themen notwendig sind, bei den anderen wieder wett zu machen und so möglicherweise aus der Verhandlungsblockade herauszukommen. Zwar noch mit Vorsicht, aber doch halbwegs offiziell, tauft der Bundesrat dieses neue Vorhaben „Bilaterale III“.

Die Ansicht von Brüssel

Noch unklar ist, ob und unter welchen Bedingungen die EU interessiert und gewillt ist, eine neue gesamtheitliche Verhandlungsrunde einzugehen. Auch erste unverbindliche Zusagen José Manuel Barrosos für eine Paketlösung haben keine Klarheit darüber gebracht, wie weit die EU die sektoriellen Abkommen zu blockieren bereit ist, so lange der institutionelle Rahmen nicht klar ist. Die Schweiz ist zwar für die EU nach wie vor ein wichtiger Partner – dank ihrer Lage und dank der intensiven Wirtschaftsbeziehungen. Die EU hat auch ein Interesse daran, dass die Spannungen mit der Schweiz – besonders in einem Wahljahr – nicht zu gross werden. Aber bis zu welchem Punkt die EU bereit ist, den besonderen Anliegen der Schweiz entgegenzukommen, wird in Brüssel weiterhin sondiert werden müssen. Erst dann wird klar, ob die Bilaterale III zustande kommen und was man darunter genau verstehen muss.

Mögliche auf dem Tisch liegende Themen könnten – neben dem institutionellen Rahmen – Steuern, Agrarfreihandel und ein erneuter Erweiterungsbeitrag sein. Diese Themen, die für die EU im Vordergrund stehen, sind für die Schweiz innenpolitisch ausgesprochen heikel. Mit der Strategie des Verhandlungspakets soll beim Volk der Eindruck entstehen, dass die Schweiz die Beziehungen mit der EU unter Kontrolle habe, ihrem Druck nicht nachgibt und als gleichberechtigter Partner verhandelt. Doch die momentane Verhandlungsblockade und die Ereignisse der vergangenen Monate widersprechen diesem Eindruck. Vielleicht glauben die verantwortlichen Strategen in der Bundesverwaltung auch selber an das Funktionieren der Strategie. Doch ihr Erfolg ist mehr als fraglich.

Die Chance der Schweiz

Der bilaterale Weg hat der Schweiz schon einmal aus einer misslichen Lage geholfen, als 1994 die Krise nach dem Nein zum EWR dank der Bilateralen I überwunden werden konnte. Im Unterschied zu den vergangenen Verhandlungen ist die EU heute aber weniger kompromissbereit und gegenüber den Besonderheiten der Schweiz ungeduldiger geworden. Neu muss nun den Bilateralen Abkommen auch vom Europäischen Parlament der Segen erteilt werden.

Es besteht die Gefahr, dass sich diese Bilaterale III eher als ein Manöver entpuppen um Zeit zu gewinnen und das Problem bis nach den nationalen Wahlen zu verschieben, statt dass nach einer echten Strategie für die Zukunft mit Europa gesucht wird. Wünschenswert wäre aber, dass die Schweiz die knappe Zeit bis zu den Wahlen nutzten würde, um einen gezielten Konsens über ihre europapolitischen Kernanliegen bei allen relevanten Akteuren – Parteien, Wirtschaftsverbände und Kantonen – zu erlangen. Nur geeinigt und entschlossen kann die Schweiz gegenüber der EU ihre Verhandlungsposition stärken und gegenüber dem Volk an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Elisa Ravasi studiert Europarecht in Neuenburg. Sie engagiert sich bei foraus in der Arbeitsgruppe Europa.

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