Mythen zur Personenfreizügigkeit Nr. I: Der vermeintliche Souveränitätsanker der Schweiz: Die Ventilklausel

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Von Nathalie F. Manac’h – Schutzklauseln sind praktisch. Sie lassen sich oft mit wenig Widerstand in die Gesetzestexte integrieren und dienen zur flexiblen Ergreifung von Schutzmassnahmen, aber auch zur Aufschiebung von Entscheiden und Lösungen. Die grosse Herausforderung besteht darin, Vertragsklauseln nur dann in ein Abkommen zu integrieren, wenn der aus der Flexibilität erwachsende Nutzen grösser als der verursachte Schaden ist. Ob dies für die Ventilklausel, dem Instrument zur Beschränkung der Personenfreizügigkeit (PFZ) der Fall ist, kann bezweifelt werden.

Der Bundesrat hat Ende Mai dieses Jahres zur Kenntnis genommen, dass die Ventilklausel auch 2011 nicht zur Anwendung kommen wird. Die Schutzklausel kann nämlich nur dann zum Einsatz kommen, wenn die Arbeitskräfte der EU-17/ EFTA-Staaten um mehr als 10% über dem Durchschnitt der Einwanderung der drei vorangegangenen Jahre liegt. Mit der Ventilklausel hat der Bundesrat noch bis 2014 die Möglichkeit, Kontingente für die EU-17 einzuführen.
2007 wären die quantitativen Bedingungen zur Anwendung der Schutzklausel gegeben gewesen, doch hatte sich der Bundesrat damals knapp dagegen entschieden. Die Wirtschaft sei auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, lautete das offizielle Argument. Vor dem Hintergrund des bedrohten Bankgeheimnisses wolle der Bundesrat eine Verstimmung Brüssels nicht riskieren, mutmasste die Presse über den Entscheid des Bundesrates.

Kaum noch im Einsatz bis 2014
Dass die Ventilklausel bis 2014 noch angewandt wird, ist eher auszuschliessen. Wie das erste und zweite Quartal bereits belegen, wird die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen dieses Jahr, im Vergleich zu den vorangehenden drei Jahren zwar weiter ansteigen, doch wird der jährliche Durchschnitt von 2008 bis 2010 (67’255 Aufenthaltsbewilligungen) wohl nicht um mehr als 10% überstiegen. Bis jetzt wurden in der Bemessungsperiode von April 2010 bis Juni 2011 insgesamt nicht einmal 50‘000 Bewilligungen vergeben.
Somit ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass die 10%-Hürde überschritten und die Klausel 2012 angerufen werden könnte. Für Rumänien und Bulgarien, welche noch bis 2016 einer beschränkten Freizügigkeit unterstehen, könnte bis 2019 die Schutzklausel angewendet werden. Mit einem Ansturm aus Rumänien und Bulgarien ist jedoch nicht zu rechnen.

Wie souverän ist die Schweiz damit wirklich?
Schutzklauseln eignen sich dafür, den Grad der Selbstbestimmung eines jeweiligen Staates zu stärken. An der „Letzten Meile“ der Personenfreizügigkeit festzuhalten, verleiht der Schweiz gegenüber der EU Abstand. Doch wie sinnvoll ist dies im Falle der Ventilklausel wirklich? Wie man bei politischen Diskussionen derzeit beobachten kann, ist die Schutzklausel anfällig auf Instrumentalisierung (z.B. hinsichtlich des Wahlkampfs) und Missbrauch. Das jüngste Beispiel ist der Vorschlag einer Nachverhandlung der Schutzklausel in Richtung einer Verschärfung, wie sie Bundesrat Schneider-Ammann gefordert hat: „Eine allfällige Anpassung müsste natürlich mit unseren europäischen Partnern ausgehandelt werden“, erklärte der Wirtschaftsminister im Mai. Dabei wird am falschen Ort nach einer Lösung gesucht. Statt eine Verschärfung der Ventilklausel anzusteuern, müsste das erklärte Ziel sein, die Effizienz bei der Umsetzung von Kontrollen im Zusammenhang mit Scheinselbständigen aus dem Ausland zu steigern.
Die Ventilklausel als vermeintlicher Souveränitätsanker im aussenpolitischen Handlungsspielraum der Schweiz hat seit der in Kraftsetzung 2007 wenig Nutzen, aber auch (noch) keinen direkten Schaden gebracht. Nebst eines Sicherheitsabstands zu Brüssel und in der Funktion als “psychologische Waffe“ – also in der Symbolpolitik gegenüber der EU im Hinblick auf den Ausbau von Sonderregelungen für die Schweiz – , stellt die Schutzklausel aber eine starke Versuchung dar, die Politik mit der EU damit in eine populistische Richtung instrumentalisieren zu wollen. Die Konsequenzen einer Verschärfung der Ventilklausel könnten, falls die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU scheitern, verheerend sein und im schlimmsten Fall die Aufkündigung der bilateralen Verträge bedeuteten.

Nathalie F. Manac’h arbeitet bei einem Schweizer Beratungsunternehmen. Sie engagiert sich bei foraus im Kommunikationsgremium und in der Arbeitsgruppe Migration.

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