Aussenpolitik-Briefing: Europa

Inmitten des Wahlherbsts 2023 lancieren wir eine Serie von prägnanten Aussenpolitik-Briefings. In den 14 themenspezifischen Briefings reflektieren 23 Autor:innen die Vielfalt der aussenpolitischen Herausforderungen, die einerseits die Parlamentarier:innen die letzten vier Jahre beschäftigten und andererseits die politische Agenda in naher und mittlerer Zukunft bestimmen werden. Bis zu den nationalen Wahlen am 22. Oktober publizieren wir die Aussenpolitik-Briefings auch als Blogserie.

Europe

Executive summary

– Mit offener strategischer Autonomie und der Verabschiedung des Green Deals ist der EU-Binnenmarkt im Wandel.

– Einerseits will die EU in strategisch wichtigen Bereichen unabhängig von Russland, China und den USA handeln können (Stichwort: Das Europäische Chip-Gesetz). 

– Andererseits verlangt der Green Deal von den Unternehmen, die Einhaltung von Umweltvorschriften in ihre komplette Wertschöpfungskette zu integrieren (Stichwort: Gesetzesinitative für die Sorgfaltspflicht von Unternehmen).

– Dieser Wandel wird Auswirkungen auf den Schweizer Wirtschaftsstandort und die Versorgungssicherheit haben. 

 

Rückblick

Unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die EU eine Wende in ihrer Industriepolitik vollzogen. Herzstück ist der Europäische Green Deal. Die EU reagiert auf die Handelspolitik der USA und Chinas mit der Strategie der offenen strategischen Autonomie. Konkret erwägt die EU immer mehr Subventionen und auch protektionistische Massnahmen (siehe Briefing “Investitionen”).

 

Eine stabile, enge Beziehung zur EU ist die Grundvoraussetzung für eine längerfristige Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt und eine Zusammenarbeit in der Versorgungssicherheit. Dies wurde auch vom Bundesrat in der Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz-EU vom Juni 2023, in Erfüllung von zehn parlamentarischen Vorstössen, festgehalten. Doch die bilateralen Beziehungen Schweiz-EU erodieren und die verstärkte Zusammenarbeit ist weitgehend blockiert. Fortschritt ist abhängig von der Klärung der institutionellen Fragen mit der EU. Damit bleibt ein Hauptziel der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 und eine Priorität der Legislaturplanung 2019-2023 unerfüllt. Der Bundesrat hat die Eckwerte für neue Verhandlungen im Juni 2023 verabschiedet. Ein Verhandlungsmandat soll im Herbst 2023 vorbereitet werden. 

 

Die Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben globale Abhängigkeiten aufgezeigt. Die Schweiz hat bereits Erfahrungen mit politisch motivierten Unterbrechungen in der Lieferkette: Die Schweizer Stahlindustrie wurde 2019 von EU-Schutzmassnahmen getroffen (siehe Briefing “Handel”). Auch während der Pandemie hatte die Schweiz zwischenzeitlich Mühe, medizinisches Schutzmaterial und einzelne Medikamente zu importieren (siehe Briefing “Globale Gesundheit”). 

Trotzdem steht der Bundesrat in seinem Bericht in Erfüllung der Motion Häberli-Koller zu essentiellen Gütern vom August 2022 (20.3268) dem globalen Trend Richtung Subventionierung strategisch wichtiger Industrien skeptisch gegenüber. Im Gegensatz zur EU, den USA und China versteht der Bundesrat in seinem Bericht unter ‘essentiellen Güter’ nur lebensnotwendige Güter wie Arzneimittel und Nahrungsmittel und nicht strategisch-notwendige Güter, wie beispielsweise Halbleiter. Zur Sicherstellung der Versorgung mit essentiellen Gütern möchte der Bundesrat unter anderem den EU-Binnenmarktzugang sichern und weiterentwickeln. Dafür braucht es allerdings Lösungen für die institutionellen Fragen mit der EU.

 

Ausblick

Für die Schweiz ist der Wandel in der EU-Politik aus zwei Gründen genau und kritisch zu beobachten. 

Erstens könnte die Industrieförderung für die EU einen Standortvorteil gegenüber der Schweiz schaffen. Beispielsweise mobilisiert das EU Chip-Gesetz 43 Mrd. Euro Investitionen in die europäische Halbleiterindustrie. Im Falle einer Halbleiter-Versorgungskrise müssten subventionierte Firmen EU-Bestellungen priorisieren. Diese Massnahme könnte zur Folge haben, dass die Versorgung für die Schweiz bei Engpässen schwieriger wird. Die EU investiert auch in die Halbleiter-Forschung durch das EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe. Die Schweiz ist zurzeit in der Forschung zu Halbleitern führend. Eine Beteiligung der Schweiz an den Programmen von Horizon Europe wäre deshalb für die EU von starkem Interesse. Die Nicht-Beteiligung schwächt den Schweizer Forschungsstandort und damit die Wirtschaft. Eine Assoziation an Horizon Europe wäre möglich, ist allerdings von Fortschritten in der Lösung der institutionellen Fragen abhängig.  

Zweitens wird die 2024 vorgesehene Verabschiedung der Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen für die Schweiz von zentraler Bedeutung sein. Das bestätigte ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Bundesamts für Justiz. Die aktuelle Schweizer Gesetzgebung orientiert sich an den europäischen Regelungen, die der künftigen Richtlinie zur Sorgfaltspflicht vorausgehen. Diese Gesetzgebung beruht auf dem Prinzip des “comply or explain”. Die neue EU-Richtlinie sieht unter anderem die Einführung einer Unternehmenshaftung für Umweltschäden vor, die im Ausland verursacht werden. Sie wird für Unternehmen gelten, die ihren Sitz in der Schweiz haben, aber im Binnenmarkt tätig sind. Ohne Äquivalenzprinzip zwischen den derzeitigen Schweizer Vorschriften und der künftigen EU-Richtlinie könnte es zu Doppelarbeit und Rechtsunsicherheit für Schweizer Unternehmen kommen. KMU müssen sicherstellen, dass auch ihre Zulieferer die vorgeschriebenen Umweltstandards einhalten. Die EU sieht Unterstützungsmassnahmen für KMU vor. Es ist noch offen, ob und wie die Schweiz ihre KMU ebenfalls unterstützen wird.