Zehn Jahre 9/11: Keine verlorene Dekade

International Law

Von Oliver Thommen – Die zehn Jahre seit dem 11. September 2001 werden oft als “die verlorene Dekade“ beschrieben. Das ist falsch. Die Fortschritte der letzten zehn Jahre wurden bloss anderswo erzielt als im sogenannten Westen.

9/11 gilt als historisches Ereignis, welches das Ende der kurzen US-amerikanischen Hegemonie ab 1989 und den Aufstieg des militanten Islamismus markierte. Das von Francis Fukuyama 1992 prophezeite „Ende der Geschichte“ endete mit den schrecklichen Anschlägen von 9/11 abrupt. Die Konsequenzen waren denn auch weitreichend: In Afghanistan und im Irak wurde als bald Krieg gegen die Achse des Bösen geführt und die in vielen Bereichen destruktive Präsidentschaft von George Bush, jr. war bis auf Weiteres gesichert. Zudem wurden international Netzwerke zur dichteren Überwachung der Bürger aufgebaut.

Auch in der Schweiz erscheinen die letzten zehn Jahre als Dekade des Abstiegs, welche das zuvor in sich zufriedene Land negativ beeinflusste. Identifikationsfirmen à la Swissair und UBS durch die Rettung des Bundes entmythisiert, die Bevölkerung und Politik durch al-Ġaddāfī gedemütigt, durch den Migrationsdruck irritiert und durch das Minarettverbot und das Ausschaffungsgebot gespalten, entstand das Bild einer sich zusehends wirtschaftlich und politisch isolierenden Schweiz.

Aufstieg des Zivilen

Dieses Bild des allgemeinen Niedergangs, wie es nicht nur in der Schweiz empfunden wird, vergisst aber: Die arabischen Revolutionen, die Proteste in Israel, in Grossbritannien, aber auch die stillen Proteste in China und Indien zeigen, dass die Zivilgesellschaft sich wieder vermehrt ihrer Artikulationsfähigkeit bewusst ist – Unterdrückung, Korruption oder Misswirtschaft sind wieder Gründe, auf die Strasse zu gehen.

Ausgelöst wird diese zivilgesellschaftliche Reaktion durch die Interdependenz in Wirtschaft, Politik, Medien, Bildung. Denn das Mass an gegenseitiger Verknüpfung aller Akteure ist heute so hoch wie noch nie, was die Regierungsfähigkeit des einzelnen Nationalstaates erschwert. Dadurch verlieren traditionelle Deutungsmuster an Legitimität. So wirkt der neopopulistische Konservatismus, genauso wie der militante Islamismus oder US-amerikanische Hegemonialanspruch als ein Aufbäumen gegen diese vernetzte Welt. Die letzten zehn Jahre hatten diesen Abwehrreflexe inne: Die Kriege in Afghanistan und Irak, Währungs- und Konjunkturkrisen oder politischer Isolationismus einiger Staaten dienen als Anzeichen dafür.

A Farewell to Arms?

Die Weltgemeinschaft erreichte mit dem Ende des 20. Jahrhunderts wieder ein Mass an Interdependenz, wie es zuvor im fin de siècle des langen 19. Jahrhunderts erreicht wurde, auch wenn die damals unterworfenen Kolonialgebiete noch nicht ihre heutige Bedeutung erlangt hatten. Dieser Aufstieg endete mit einem Schuss am 28. Juni 1914, als nicht Araber, sondern Serben demokratische Rechte einforderten. Die Folge war ein von Krieg gekennzeichnetes kurzes 20. Jahrhundert, in dem vorerst entschieden wurde, welche Rollen Staat und Individuum haben sollten. „Volkskörper“ mussten und müssen zusehends einer auf der Erklärung der Menschenrechte aufgebauten (Welt-)Gemeinschaft im Interesse der res publica Platz machen.

Die zunehmende Vernetzung der Welt hat zusammen mit Massenzugänglichkeit des Internets in den 2000er Jahren die Voraussetzung als Plattform für die arabischen Revolutionen gelegt: Während Politik und ihre Deutungsmuster nationalstaatlich operieren, funktioniert Information supranational. Anders als beim Epochenereignis 1914 scheint die Welt aber nach dem Frühling 2011 nicht im Chaos zu versinken, sondern zu einer neuen, durch Supranationalität geprägte partnerschaftliche Ordnung zu finden: Denn eine interdependente Welt wird über kurz oder lang eine international geregelte soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit einfordern, in der Himmelsrichtungen keine politische und ökonomische Macht mehr versinnbildlichen.

Oliver Thommen lebt in Basel, studierte Geschichte, Islamwissenschaft und Soziologie und arbeitet als Journalist. Er engagiert sich bei foraus in den Arbeitsgruppen Migration und Identität Schweiz.

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