Vernünftig wird man früh genug

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Ihr wisst noch nicht, wo euch das kommende Studium hinführt? Sehr gut! Ein kleines Plädoyer des Scheiterns zum Semesterbeginn.

 

Meine Name ist Nicola, und ich bin ein Startup. Ich habe nach meiner Geburt in der Schweiz gute Standortbedingungen vorgefunden, Eltern, Lehrern und vielen weiteren Leuten haben in mich investiert, ein bisschen Talent war auch vorhanden… Und trotzdem bin ich – wie viele gute Startups – zuerst mal gescheitert. Und das kam so: Nach meiner neusprachlichen Matur bin ich zuerst auf die andere Seite der Welt gereist, hatte reiche Manager beim Ausfüllen ihrer Steuererklärungen unterstützt (wie deklariert man eigentlich einen Helikopter?) und einen Berufsberater aufgesucht (Empfehlungen: Englisch, Deutsch oder Psychologie). Ich habe dann Jus studiert.  Und diese Zeit dazu genutzt, wenn immer möglich nicht Jus zu studieren.. Erstaunlicherweise hat mir dann noch vor Ende des Studiums eine der weltweit grössten Kanzleien einen Vertrag für ein Anwaltspraktikum angeboten; mit einem Lohn von mehr als CHF 9000.-/Monat hatten sie ein sehr gutes Argument, und ich habe unterschrieben…

Bis dahin eigentlich alles ziemlich straightforward. Doch dann stand, kurz vor Ende des Studiums, die Abstimmung zur Personenfreizügigkeit (Ausdehnung auf Bulgarien & Rumänien) an, und ich wurde von den Jungparteien (also von allen ausser einer) angefragt, ob ich die nationale Pro-Kampagne koordinieren könnte. Am Schluss war die Personenfreizügigkeit noch einmal gerettet, aber ich hatte vergessen, mich um mein Jusstudium zu kümmern ­– und bin bei der Liz-Prüfung voll durchgefallen. Das war ziemlich schmerzhaft, da man die Prüfung damals nur zweimal machen konnte und ich sonst ohne irgendeinen Abschluss dagestanden wäre. Ausserdem wollte mich die renommierte Kanzlei dann auch nicht mehr. (Die Lizprüfung schaffte ich dann glücklicherweise doch noch irgendwie.)

Ich hatte aus damaliger Sicht voll aufs falsche Pferd gesetzt und damit mein Studium und meine Zukunft als Anwalt riskiert. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich mich auf mein Studium konzentriert. Doch ich war nicht vernünftig, und das war gut so: Nach diesem Scheitern war ich „als Startup“ auf den Geschmack gekommen und die Jugendkampagne bildete ein paar Monate später die Basis und das Netzwerk, auf dem wir unseren Think-Tank foraus aufbauen konnten.

Ich fragte meine Eltern für ein Darlehen, um die ersten 12 Monate voll auf den Think-Tank setzen – und dann gründeten wir foraus. Nach einem Jahr konnten wir einen ersten und dann bald auch zweiten Lohn finanzieren, hatten Regiogruppen in sämtlichen Universitätsstädten der Schweiz, die ersten fünf Studien publiziert (auf Deutsch & Französisch!)  und spätestens nach der Anfrage eines Bundesrates, ob wir ihm mal unsere Ideen präsentieren könnten, wussten wir, dass unser sogenanntes Grassroots-Modell funktioniert und es in der Schweiz einen Bedarf für frische Ideen in der Politik gibt. Heute hat foraus Büros in Zürich und Genf, insgesamt 14 Angestellte und 900 ehrenamtliche Mitglieder, ein Budget von über einer Million und ist in der ganzen Schweiz sowie seit kurzem auch in Berlin, Brüssel und Liechtenstein präsent.

Nur weil ihr jung seid, solltet ihr euch nicht hinten anstellen. Erfahrung ist wichtig, aber eure Kenntnis der heutigen Welt ebenso. Zudem haben wir in unserem kleinen Land das grosse Glück, sehr nahe an den „Hebeln“ zu sein: Wenn fünf bis zehn Leute zusammen gute Arbeit leisten, wird dies wahrgenommen und kann tatsächlich etwas verändern, egal ob in der Kultur, Wissenschaft oder Politik. Dafür müsst ihr euch vernetzen, und zwar über die eigenen Freunde und fachlichen Interessen hinaus. Je mehr Leute aus verschiedenen Bereichen ihr kennt, desto besser. Und wenn ihr merkt, dass ihr ein Talent und eine Nische dafür habt, überlegt euch, selber etwas zu gründen. So kann man übrigens auch am schnellsten zu einem Präsidenten werden…

Ihr wisst noch nicht, wo euch das kommende Studium hinführt? Sehr gut! Haltet diese Unsicherheit aus, nutzt sie um Dinge auszuprobieren und neue Projekte anzustossen; vernünftig wird man früh genug.

Das Tagesanzeiger-Magazin hat vor kurzem die heutige Jugend (Jugendbarometer der Credit Suisse) als „radikal normal“ beschrieben. Bitte: Werdet nicht „normal“. Die Welt braucht euch mit eurer Kreativität, eurer Leidenschaft, eurer Risikobereitschaft und eurer Zuversicht. Manchmal im Leben muss man das Scheitern wagen, denn nur in solchen Situationen traut man sich an Projekte, die wirklich einen Unterschied machen. Wenn man es sich richtig überlegt, darf man in der Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen Ländern dieser Welt eigentlich keine Angst vor der Zukunft haben – irgendeinen Job findet man immer, und es gibt ein starkes Netz, das uns alle hält und im Notfall unterstützt. Also wagt das Scheitern und stürzt Euch in grosse Projekte, die Euch wichtig sind! Bereuen tut man meist Dinge, die man nicht gemacht hat, und nicht Dinge, die man gemacht hat.

„Alle sagten: Das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht, und hat’s einfach gemacht.“

Alles Gute, liebe Studenten.

Dies ist eine gekürzte Rede der Maturrede, die Nicola Forster am 2. Juli an der Kantonsschule Stadelhofen (Zürich) gehalten hat. Im Rahmen desselben Anlasses wurde Nicola Forster auch von der NZZ portraitiert.