Durchkreuzte Pläne: Die Türkei wählt inmitten der Gewalt

Peace & security

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP müssen die Veränderungen in der türkischen Gesellschaft und den Aufstieg der HDP akzeptieren. Der Versuch mittels Neuwahlen Wählerstimmen zurückzugewinnen droht das Land in eine Gewaltspirale zu reissen.

 

Der Einzug der HDP ins Parlament kam der AKP und ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach mehr als zwölf Jahren Alleinregierung sehr ungelegen. Nachdem Erdoğan im August 2014 zum ersten direkt vom Volk gewählten Präsidenten gekürt wurde, nahm er sich zum Ziel die Verfassung zu ändern, um ein Präsidialsystem einzuführen. Hierfür musste Erdoğans Partei AKP mit der Wahl am 7. Juni ihre parlamentarische Macht mit einer Zweidrittelmehrheit festigen. Indem die HDP aber die Zehn-Prozent-Hürde überschritt, hat sie Erdoğan einen doppelten Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht nur ist die AKP weit entfernt von einer Zweidrittelmehrheit von 367 von insgesamt 550 Sitzen im türkischen Parlament, die gewonnenen 13 Prozent der HDP haben auch dazu verholfen, dass die AKP ihre absolute Mehrheit von 276 Sitzen verfehlt hat. Damit wäre die AKP für das erste Mal seit 2002 gezwungen gewesen, eine Koalition zu bilden.

Gewaltspirale als Wahlstrategie?

Erdoğan aber verfolgte eine andere Strategie. Falls innert 45 Tagen kein Koalitionspartner gefunden wird, sieht die türkische Verfassung Neuwahlen vor. Erdoğan liess die Koalitionsverhandlungen bewusst scheitern, um sich die absolute Mehrheit der Sitze zurückzuholen. Bereits rief er die Wähler dazu auf, ihren Fehler bei der vergangenen Wahl zu „korrigieren“. Dabei ist es Erdoğans Strategie, die Gewalt eskalieren zu lassen, um sich und die AKP als starke, ordnende Macht darzustellen. Nach einem vom IS verübten Terroranschlag gegen eine prokurdische Kundgebung in Suruç im Juli ermordete die PKK zwei türkische Polizisten, welche sie der Kollaboration mit dem IS bezichtigte. Daraufhin beendete Erdoğan die kurz vor einem Abschluss stehenden Friedensgespräche mit der PKK. Erdoğan scheint die PKK mehr zu scheuen als den IS: Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror begann er systematisch PKK-Stellungen zu bombardieren, währenddessen er den IS, wenn auch nicht unterstützt, so doch zumindest geduldet hat.

Ankara, 10. Oktober: schwerster Terroranschlag der Geschichte

Der Anschlag auf eine Friedensdemonstration zur Beendigung des Konfliktes zwischen dem türkischen Staat und der PKK am 10. Oktober in Ankara kostete mehr als 100 Demonstranten das Leben. Obwohl der türkische Geheimdienst MIT mehrere potenzielle Selbstmordattentäter aus den Reihen des IS – inklusive der beiden Verdächtigten – unter Beobachtung hatte, konnte der Anschlag nicht verhindert werden. Es hagelte Kritik für die türkische Regierung und Präsident Erdoğan, nicht vehement genug gegen den IS vorgegangen zu sein. Der Co-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş: «Der Staat, dem kein Flügelschlag eines Vogels entgeht, war nicht in der Lage, ein Massaker im Herzen von Ankara zu verhindern». Die türkische Regierung ihrerseits spekulierte nur wenige Stunden nach dem Anschlag über eine mögliche Täterschaft der PKK neben dem IS. Anstatt im Angesicht eines solch schmerzlichen Ereignisses die Nation in Trauer zu vereinen, herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen und eine weitere Polarisierung der Gesellschaft vor. Eine Konstante jedoch bleibt bestehen: die Neuwahlen sollen am 1. November durchgeführt werden. Trotz der Strategie Erdoğans, mit der Gewaltspirale Wähler zu gewinnen, wird Umfragen zufolge ein ähnliches Wahlergebnis wie Anfang Juni erwartet.

Chance für einen Aufbruch?

Auch wenn mittlerweile viele Türken und externe Beobachter die Ereignisse im Land sehr pessimistisch betrachten, so birgt die aktuelle Situation auch die Möglichkeit zu einem neuen Aufbruch. Aussenpolitisch muss die Türkei eine neue Strategie jenseits neo-osmanischer Grossmachtsträume finden. Die gestörten Beziehungen zu Syrien und die gescheiterte Regionalpolitik verdeutlichen dies. Eine Rückkehr zur anfangs des Jahrhunderts prägenden Orientierung nach Europa scheint angebracht. Die Auswirkungen der katastrophalen Lage in Syrien auf die Türkei – mit der erstarkten Bedrohung durch Terroristen des IS und die Herausforderung der syrischen Flüchtlingsströme – bietet Terrain für eine vertiefte Zusammenarbeit mit der EU. Merkels Besuch in Istanbul ist bereits ein erstes Zeichen.

Aber auch innenpolitisch steht die Türkei vor einer schwierigen Aufgabe. Es muss die Stabilität, Sicherheit und das friedliche Zusammenleben garantiert werden. Die Politiker des Landes haben die Aufgabe sicherzustellen, dass die Türkei nicht in Zustände wie in den 1980er Jahren zurückfällt. Egal wie das Wahlresultat am 1. November aussehen wird, muss innenpolitisch eine neue Ära des politischen Kompromisses eingeläutet werden. Es bleibt zu hoffen, dass die politische Elite das Wohl des Landes vor Parteiinteressen stellt. Pragmatismus und nicht Personenkult sind nun gefragt.

Pascal Roelcke (22) schloss 2015 den Bachelor in Internationalen Beziehungen an der Universität Genf ab. Momentan arbeitet er im Rahmen des Zivildienstes für die Fondation Hirondelle, einer NGO von Journalisten, welche in Konfliktgebieten unabhängige Medien gründet und unterstützt.

David Svarin (30) ist Politologe. Er befasst sich im Rahmen seiner Doktorarbeit am King’s College London mit der russischen und türkischen Aussenpolitik. Im Vorstand von foraus ist er für Forschung und Publikationen zuständig. Twitter:@davidsvarin.