Don Quijchote bekommt Applaus: Zur frappierenden Nutzlosigkeit der Zwangsmassnahmen im Migrationsrecht

International Law

Von Stefan Schlegel – Obwohl sie sehr leidvoll und sehr teuer sind, muss bei Zwangsmassnahmen im Migrationsrecht nicht nachgewiesen werden, ob sie etwas nützen. Das einzige was die Öffentlichkeit möchte, ist dass etwas getan wird. Irgendwas, Hauptsache etwas – je sichtbarer desto besser.

Vergangene Woche fand nach mehr als einjährigem Unterbruch wieder ein Schweizer Rückführungsflug nach Nigeria statt. Die mediale Aufmerksamkeit war gross und viele Fragen – von der richtigen Fesselung bis zur optimalen Dosis Prügel – wurden dabei aufgeworfen. Keine Rolle spielt hingegen die Frage: Nützt das was? Wird das je zum Erfolg führen?
In jedem Bereich ihrer Tätigkeit müssen Behörden gegenüber der Öffentlichkeit darlegen, dass ihre Massnahmen eine spürbare Wirkung haben, dass die Kosten, die sie der Gesellschaft aufbürden in einem vernünftigen Verhältnis stehen zum erzielten Nutzen. Doch dieser Rechtfertigungszwang bedingt immer eine Lobby, die nachfragt und nachrechnet und die Darstellung der Behörde durch eine Gegendarstellung ergänzt. Diese Interessensvertretung fehlt vielleicht in keinem Politik-Bereich so stark, wie in der Migrationspolitik, besonders im Umgang mit irregulärer Migration. Die Politik wird in diesem Bereich vom Umstand geprägt, dass die Betroffenen ihre Interessen weder im Parlament, noch in der Wandelhalle noch in den Medien einbringen können. Die Menschrechtsorganisationen, die sich für Sans-Papiers einsetzen, sind wenig gewandt darin, mit fehlender Zweckmässigkeit oder mangelnder Effizienz zu argumentieren.

Wirkt wie der Galgen auf dem Marktplatz
Das Resultat ist, dass die Behörden von der Frage verschont bleiben, ob ihre teuren und leidvollen Zwangsmassnahmen nennenswerte Resultate erzielen. Was zählt ist einzig der Eindruck, dem Gesetz werde mit aller Konsequenz Nachhaltung verschafft. Wichtig sind daher möglichst sichtbare, möglichst muskulöse und mediale Aktionen, wie der Ausschaffungsflug vergangene Woche. Ihre Tauglichkeit spielt keine Rolle, das Augenmass darf eine Auszeit nehmen.
An Bord des Ausschaffungsfluges befanden sich 19 Nigerianer. Das sind genau ein Prozent der Nigerianer, die im Jahr 2010 über das Asylsystem in die Schweiz gereist sind und nur gerade dreimal so viele Nigerianer, wie vergangenes Jahr in Schweizer Haftanstalten ums Leben gekommen sind.
Zur Ausschaffung dieser 19 Menschen musste eine Maschine gechartert werden, mehr als 40 Polizisten, ein Arzt und ein Rettungssanitäter sind mitgeflogen, zur Vorbereitung waren etliche Hafttage nötig.
Vergangenes Jahr wurde dieselbe Übung auch schon für 6 Personen durchgeführt, von denen 5 wieder zurück kamen, weil das Flugzeug in Gambia wider Erwarten keine Landeerlaubnis erhielt.
Die Kosten solcher Aktionen stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Sie dienen einzig der staatlichen Machtdemonstration und erfüllen eine ähnliche Funktion wie der Galgen auf dem Marktplatz, an dem früher zur Abschreckung Diebe aufgeknüpft wurden.

Aus der Statistik, aus dem Sinn
Befürworter der Ausschaffungsflüge werden darauf beharren, dass solche muskulösen Aktionen nötig seien, um einen weit grösseren Anteil von Personen zur selbständigen Ausreise zu bewegen (die Statistik spricht dann etwas zynisch von „freiwilliger Ausreise“). Doch mindestens im Bezug auf Nigeria geht dieses Argument ins Leere. Seit Anfang Jahr sind gerade mal 84 Nigerianer/innen „freiwillig“ ausgereist. Das sind 4% deren, die letztes Jahr eingereist sind. Ein sehr viel grösserer Teil taucht unter.
Grundsätzlich gilt für alle Zwangsmassnahmen im Migrationsbereich: Je unerbittlicher sie angewandt werden, desto grösser ist der Anteil deren, die rasch untertauchen. Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen hat in einer Studie vom Dezember 2010 festgehalten, der Sozialhilfestopp (eine Anfang 2008 eingeführte Zwangsmassnahme) sei für den Anteil der irregulär im Lande anwesenden Menschen folgeschwer gewesen.
Bereits seit dem Jahr 2005 belegt eine Untersuchung der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates auch, dass die Ausschaffungshaft so gut wie keine Wirkung hat. Der Kanton Genf hatte im Untersuchungsjahr eine Rückführungsquote von 11% und hat aber nur 7% der Zurückgeführten zuvor in Haft genommen. Der Kanton Zürich konnte gerade mal 13% der Abgewiesenen zurückführen, nahm zuvor aber 95% aller Rückgeführten in Haft. Viel Kosten und viel Leid durch unerbittliche Anwendung der Ausschaffungshaft, aber bloss 2% mehr Rückführungen. Ausserdem ergab die Untersuchung, dass die Chance, jemanden noch ausschaffen zu können deutlich sinkt, je länger er sich in Haft befindet.

Immer weniger Hemmungen
Wenn all die Zwangsmassnahmen nicht ernsthaft zu einer Durchsetzung des geltenden Rechtes beitragen und die Anzahl der Abgewiesenen, die noch hier sind nicht signifikant senken können, so haben sie dennoch eine klar sichtbare Wirkung: Sie senken die Hemmschwelle für immer weitere Eingriffe. SVP-Nationalrat Dominique Baettig (selber Arzt!) war nach den Zwischenfällen beim Ausschaffungsflug letzter Woche schnell bereit, die nächste rote Linie zu überschreiten. Wer bei der Ausschaffung nicht spure, dem sollen Medikamente verabreicht werden, die gefügig machen, forderte er. Er will also Zwangsmassnahmen, die nicht einfach die Aufgabe haben, die Persönlichkeit der Betroffenen zu brechen (wie die heutigen Zwangsmassnahmen dies tun), sondern ihnen medikamentös die Persönlichkeit einfach zu entziehen. Das ist die grösste denkbare Erniedrigung, die ein selbstdeklarierter, liberaler Rechtsstaat sich selbst beifügen kann. Er erreicht dann das Stadium von Aldous Huxleys Brave New World, wo die Gesetze ebenfalls durchgesetzt werden, in dem den Rechtsunterworfenen ihre Persönlichkeit mit Medikamenten entzogen wird. Aber das Stört Dominique Baettig nicht. Er findet Menschrechte „realtitätsfremd“.
Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen, die einen teuren, leidvollen und wirkungslosen Kampf gegen Windmühlen immer weiter treiben wollen andere Menschen als „realitätsfremd“ beschimpfen dürfen, die die Errungenschaften der Verfassung verteidigen? Weshalb unternimmt es niemand, den migrationspolitischen Haudraufs in aller Deutlichkeit vorzurechnen, dass sie es sind, die weltfremd sind und nicht auf die Signale der Realität reagieren können? Wie gesagt: Es fehlt an einer Lobby.

Stefan Schlegel wohnt in Bern. Er ist Jurist und Gründungsmitglied von foraus – Forum Aussenpolitik. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration und ist Mitglied der Redaktion des foraus-Blog.

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