Wandel zur Realpolitik? Barack Obama verletzt sein Wahlkampfversprechen und schliesst Guantánamo nicht

Droit international

Von Patrice Zumsteg – Der US-Präsident will weiter Verdächtige ohne Gerichtsurteil und für unbestimmte Zeit festhalten können, wenn dies Sicherheitsinteressen dient. Die Schweiz, Depositarstaat der Genfer Konventionen, sollte intervenieren und sich bereit erklären, zusätzliche Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen.

Barack Obama ist seit dem 20. Januar 2009 im Amt. Er stieg zuvor mit dem Schlagwort Change in den Wahlkampf ein und versprach nichts weniger als den radikalen Umbau der USA. Er versprach eine erschwingliche Krankenversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger, das Ende des Irakkrieges, eine radikale Wende in der Klimapolitik, ein Ende der Diskriminierung Homosexueller im Dienst der Armee und er versprach die Schliessung Guantánamos. So kam es, dass der Präsident am 23. Januar 2009 verfügte, die CIA habe die Folter einzustellen, sämtliche Geheimgefängnisse zu schliessen und das Lager in Guantánamo innert eines Jahres aufzulösen. Heute, gut zwei Jahre später, ist Barack Obama wieder auf Feld 1. Indem er nun doch an der Politik festhält, Verdächtige ohne Gerichtsurteil unbeschränkt festhalten zu können, wenn dies Sicherheitsinteressen dient, hat der Absolvent der Harvard Law School nicht nur erneut ein Wahlversprechen gebrochen, er stellt sich auch gegen die volle Verwirklichung des humanitären Völkerrechts.

Zwischen hehrem Versprechen und Innenpolitik

Die Entscheidung, Guantánamo nicht zu schliessen, erfolgte allerdings nicht völlig autonom. Vielmehr muss man auch sehen, dass der Kongress es der Regierung verboten hat, Geld für den Transport von Guantánamo-Insassen auf das Festland auszugeben. Nach den vereitelten Anschlägen im Dezember 2009 und demjenigen am Times Square vom Mai 2010 erstarkte die (vor allem republikanische) Kritik, es sei unverantwortlich, derart gefährliche Gefangene auf das amerikanische Festland zu überführen und ihnen dort den Prozess zu machen. Die Furcht, derartig gut gesicherte Gefangene könnten entkommen, scheint zwar überzogen, hat aber doch zu einem Umdenken in der Bevölkerung geführt. Als Barack Obama sein Amt antrat, war eine knappe Mehrheit dafür Guantánamo zu schliessen. In einer Umfrage vom März 2010 wollten hingegen 60 Prozent der Befragten Guantánamo weiter betreiben.
Der Präsident ist im Dilemma gefangen zwischen dem Versprechen, Guantánamo zu schliessen und einen fairen Prozess zu garantieren und der Aussicht, dass ein Prozess nicht gewonnen werden kann, wenn sämtliche Beweismittel unter Folter zu Stande kamen.

Anspruch des humanitären Völkerrechts und amerikanische Interessen

Das humanitäre Völkerrecht unterscheidet zwischen Kombattanten und Zivilisten. Kombattanten ist es erlaubt, im Rahmen der kriegerischen Handlungen zu töten, sie dürfen aber auch getötet werden. Zivilisten hingegen stehen ausserhalb des Geschehens und dürfen – neben den unvermeidbaren Auswirkungen, die jeder Krieg mit sich bringt – nicht getötet oder terrorisiert werden. Die USA haben sich nach dem 11. September 2001 auf den Standpunkt gestellt, Terroristen seien unlawful combatants, also weder Kombattanten noch Zivilisten. Damit stünden sie auch ausserhalb jedes Schutzes, den das humanitäre Völkerrecht und das universelle Menschenrechtsregime bieten würden. Diese dritte Kategorie sieht das humanitäre Völkerrecht allerdings nicht vor: Wer während eines Kriegs in Gefangenschaft gerät wird entweder zum Kriegsgefangenen (wenn er Kombattant war) und steht unter dem Schutz der III. Genfer Konvention oder er steht als Zivilist unter dem Schutz der IV. Genfer Konvention. Es gibt keine dritte Kategorie, welche es erlauben würde, den betreffenden Personen sämtliche Rechte abzusprechen. Es besteht ein unbedingter Anspruch darauf, zu wissen, was einem vorgeworfen wird, sich gegen diese Vorwürfe verteidigen zu können und durch ein unabhängiges Gericht beurteilt zu werden. Auch wenn es schwierig sein mag, bei Terroristen oder Kämpfern ausserhalb jeglicher Struktur nachzuweisen, was ihnen vorgeworfen wird, bleibt einem Rechtsstaat nur der Weg eines ordentlichen gerichtlichen Verfahrens, dessen Ausgang naturgemäss ungewiss ist.
Diese Ungewissheit wurde unter der Regierung von George W. Bush beseitigt, indem der Kongress die gesetzliche Basis dafür schuf, Verdächtige ohne Gerichtsurteil unbeschränkt festhalten zu können. So konnten Verdächtige, welche unter Folter ein Geständnis abgelegt hatten und als gefährlich eingestuft wurden, gefangen gehalten werden, ohne dass dazu ein Prozess notwendig war. Trotz grossem internationalen Protest und mehreren Urteilen des höchsten Gerichts der USA, welche die Situation der Gefangenen als rechtswidrig einstuften, wurde an der Situation bis heute wenig geändert. Und nun sieht sich auch Barack Obama in der Situation, dass er die nationale Sicherheit höher stellen muss, als die Beachtung des humanitären Völkerrechts.

Ein Beitrag zum humanitären Völkerrecht

Das humanitäre Völkerrecht gewinnt seine Macht aus der Einsicht, dass der Krieg – wenn man ihn denn als Realität akzeptiert – wenigstens derart gebändigt werden soll, dass unnötige Opfer möglichst zu verhindern sind und auch der erbitterste Feind dennoch Mensch bleibt. Diese letzte Schwelle der Menschlichkeit soll von niemandem überschritten werden. Mit jeder Verletzung dieser Prinzipien wird der Wunsch nach Vergeltung und Rache grösser, so dass sie schlussendlich zu erodieren drohen. Die USA, die trotz vielen anders lautenden Voten immer noch als führende Macht und als Verteidigerin der Demokratie gelten dürfen, haben hier eine besondere Verantwortung. Barack Obama versucht dem gerecht zu werden, in dem er zwar an Guantánamo festhält, die dort geltenden Verfahrensvorschriften aber rechtsstaatlicher ausgestaltet und eine periodische Überprüfung der Notwendigkeit des Freiheitsentzuges anordnet. Der Zugang zu klassifizierten Informationen und zu Rechtsvertretern, welche nun auch gestützt darauf argumentieren können, wird erleichtert. Auch kündigte Barack Obama an, dem Senat die Ratifizierung des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu beantragen. Der Präsident scheint also gewillt zu sein, den Ansprüchen des humanitären Völkerrechts – soweit es ihm möglich scheint – entgegenzukommen.
Die Schweiz, welche als Depositarstaat eine besondere Verantwortung gegenüber den Genfer Konventionen hat, sollte Barack Obama in diesem Vorgehen bestärken und auf der jederzeitigen Einhaltung des humanitären Völkerrechts bestehen. Sie kann dies in direktem Kontakt mit den amerikanischen Behörden und Botschaftern tun, sie kann dies auf der internationalen Bühne tun, in dem sie daran erinnert, von welch entscheidender Bedeutung die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ist und wie sehr es von den einzelnen Staaten abhängt, es auch umzusetzen. Und sie kann einen ganz konkreten Beitrag leisten. Die Schweiz hat bereits drei ehemalige Guantánamo-Insassen aufgenommen (einen Usbeken und zwei Uiguren). Ihre Dossiers wurden eingehend überprüft und sie mussten sich verpflichten, die Werte der Schweiz und ihr Rechtssystem zu achten sowie sich sprachlich und nach Möglichkeit auch beruflich zu integrieren. Die Schweiz ist mit dieser Entscheidung ihrer humanitären Tradition gefolgt und sollte dies weiter tun. Wenn wir tatsächlich davon überzeugt sind, dass der Rechtsstaat dem Despotismus überlegen ist und gewisse Rechte allen Menschen aufgrund ihres Menschseins allein zukommen, dann müssen wir auch nach dieser Überzeugung handeln. Die Aufnahme weiterer Guantánamo-Insassen, die nur aus politischen Gründen und in Verletzung des humanitären Völkerrechts gefangen gehalten werden, würde diese Überzeugung nach aussen tragen.

Patrice Zumsteg lebt in Zürich und ist Assistent am Lehrstuhl für Rechtstheorie, Rechtssoziologie und Internationales Öffentliches Recht der Universität Zürich. Er engagiert sich bei foraus in der Arbeitsgruppe Menschenrechte.

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